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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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herein, vor dem Mutter ängstlich zurückschreckte wie Graf Dracula.
    »Hier, bevor Dad kommt«, schnarrte sie. Ihre Migräneanfälle waren oft von einer halbseitigen Lähmung der Stimmbänder begleitet. Ich war nie ganz sicher, ob das ein echtes Symptom war, oder ob sie,-wenn sie sich mies fühlte, die versagende Stimme eines Invaliden annehmen musste. »Ich wollte nur kurz mit dir über diese Bristolsache sprechen. Ich weiß, wie sehr du gegen den Umzug bist, aber ich möchte, dass du mir versprichst, keinen Druck auf Daddy auszuüben. Er will diese Stelle so sehr. Erfolg ist nämlich sehr wichtig für einen Mann. Manchmal ist es für uns Frauen schwer, so was wie Ehrgeiz zu verstehen ...«
    Ich nickte niedergeschlagen. Es war ein Schock, meine Mutter bei einer Lüge ertappt zu haben, aber ich konnte sie schlecht mit meinem Wissen konfrontieren. Eine Lügnerin und eine Lauscherin standen sich gegenüber.
    »Bestimmt könntest du ab und zu ein Wochenende bei Frances verbringen, wenn es dazu käme. Oder sie könnte zu uns kommen. Und es gibt immer noch Telefon ...« Als sie an meine häufigen, stundenlangen Gespräche mit Frances dachte, überlegte sie es sich schnell anders. »... oder die Post. Ihr müsstet den Kontakt nicht verlieren.«
    Den Kontakt verlieren. Sie hatte keine Ahnung. War ihr denn nicht klar, dass unsere Freundschaft immun gegen Trennung, Konflikte, Veränderungen war? Ich hatte keine Angst, dass wir den Kontakt verlieren würden. Ich war nur unglücklich bei dem Gedanken, Frances nicht jeden Tag zu sehen; ich würde sie und Rad und Lexi und sogar Mr. Radley schrecklich vermissen; es war eine entsetzliche Vorstellung, nicht mehr Teil ihres Alltags zu sein.
    »Das versprichst du doch, oder?«
    »In Ordnung«, sagte ich unhöflich.
    Und so verbrachte Vater die nächsten Abende damit, eine Bewerbung abzufassen. Gelegentlich kam er heraus und las einen Absatz vor, um ihn von Mutter billigen und kommentieren zu lassen; wenn sie es wagte, eine Verbesserung vorzuschlagen, verteidigte er die Originalversion ausführlich und zog sich dann mit Märtyrermiene in sein Arbeitszimmer zurück, um die Änderung vorzunehmen.
    Eine Woche später berichtete er, dass die Referenzen eingeholt worden waren. Sein Direktor war ihm auf dem Korridor begegnet und hatte gesagt, er hätte Vater über den grünen Klee gelobt. »Er will mich unbedingt loswerden«, lautete Vaters Interpretation. Der Brief mit der Einladung zum Vorstellungsgespräch kam, während er in der Schule war. Als Mutter das Emblem auf dem Umschlag sah, befühlte sie ihn, schüttelte ihn und hielt ihn ans Licht, um den Inhalt zu erraten. »Es fühlt sich zu dünn an, um eine einfache Absage zu sein«, sagte sie und wog ihn auf einer Handfläche. Sie presste ihn gegen das Glas der Haustür. »›Sehr geehrter Mr. Onions, vielen Dank für Ihre Bewerbung um den Posten als ...‹ Wie ärgerlich! Da ist eine Art Falte.« Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, den Brief zu öffnen: Das wäre dann doch zu primitiv gewesen.
    Doch ihre Intuition erwies sich als richtig, und so begannen die Vorbereitungen für Vaters »große Prüfung«. Mutter schnitt ihm die Haare sorgfältiger als sonst, sodass sein Pony in gekämmtem Zustand wirklich glatt lag anstatt schräg. Sein einziger Anzug, der seit seinem Kauf vor vielen Jahren immer wieder unmodern geworden und wieder in Mode gekommen war, und der zu allen offiziellen Anlässen diente, sein letztes erfolgloses Bewerbungsgespräch eingeschlossen, wurde aus dem Schrank geholt und auf Flecken, Mottenlöcher und Zeichen von Verschleiß überprüft.
    Ich hatte mein Versprechen gehalten, bis zu einem gewissen Punkt. Ich erwähnte nicht, wie verzweifelt ich bei der Aussicht auf einen Umzug war, und versuchte nicht zu seufzen und zu stöhnen, wenn das Thema angesprochen wurde; ich erschien mir von beispielloser Neutralität. Mir kam nicht in den Sinn, dass allein mein Schweigen eine Form von Druck war. In den Tagen vor dem Bewerbungsgespräch trug mein Vater die Miene eines Mannes zur Schau, der gezwungen war, die Methode seiner eigenen Hinrichtung auszuwählen: Mich aufregen oder Mutter enttäuschen - was er auch machte, er machte es falsch.
    Am Abend vor dem großen Tag war ich früh nach oben in mein Zimmer gegangen, um das Lyrikkränzchen zu meiden, das unten zusammentraf, um Tennyson »durchzunehmen«. Ich nährte eine leichte Verachtung für diese Clique, seit wir uns in der Schule mit Lyrik beschäftigten und sich bei

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