Seejungfrauen kuesst man nicht
Dann ist ja schon alles entschieden.«
»Nur mit eurer Zustimmung.« Sie sah uns beide an. »Sie weiß, dass ich es zuerst mit euch absprechen muss.«
Es folgte eine Pause, während der wir uns beeindruckt die Unaufrichtigkeit des Wortes »zuerst« auf der Zunge zergehen ließen. »Ist das Wort Absprache nicht eher angebracht, wenn sie erfolgt, bevor eine Entscheidung getroffen wurde?« Vaters Ton war so sanft wie möglich - ein gefährliches Zeichen.
Als sie die Ironie spürte, begann Mutter sich zu verteidigen. »Was sollte ich denn tun? Sie ist allein nicht mehr sicher. Sie ist halb blind, und sie vergisst ständig Sachen auf dem Herd. Du weißt doch, ich kann nicht dauernd zu ihr, weil ich nicht fahren kann.« Aus unerfindlichen Gründen gab sie Vater die Schuld an diesem Mobilitätsproblem, als wäre es seine Schuld, dass sie die Fahrprüfung nicht bestanden hatte. »Eines Tages wird sie noch das Haus anzünden. Du weißt ja nicht, was für ein Glück du hast, keine Eltern zu haben, um die du dich sorgen musst.«
Ein Amen darauf, dachte ich.
Ihre Ängste waren durchaus berechtigt. Granny wurde wirklich langsam blind. All der Thackeray unter der Bettdecke hatte sie schließlich eingeholt, und sie konnte jetzt gar nicht mehr lesen. Bücher im Großdruck und eine Lupe hatten Tonbändern Platz gemacht, die sie Tag und Nacht in voller Lautstärke hörte, denn ihre Taubheit hatte sich über die Jahre auch nicht verbessert. In ihrem Haus sammelte sich nach und nach eine Menge technischen Krimskrams an, der ihr dabei helfen sollte, weiter ein unabhängiges Leben zu führen: Ein Telefon mit Verstärker und riesigen Ziffern, Brailleuhren, ein Hörgerät, das sie sich zu tragen weigerte, weil es pfiff, ein Notsummer, den sie eigentlich um den Hals tragen sollte, den sie aber herumliegen ließ und dann verlor. Aber nichts davon hielt den Wechselfällen ihres Gedächtnisses oder ihrer Launen stand. Haushaltshilfen wurden regelmäßig des Diebstahls irgendeines verlegten Schmuckstücks bezichtigt, das sich später in einem neuen, bizarren Versteck wieder fand vielleicht in der Teebüchse oder im Kühlschrank. Selbst die Dame von »Essen auf Rädern« musste ihren Hut nehmen, weil sie die Polizei gerufen hatte, als auf ihr Klingeln hin niemand öffnete. Als Granny aus ihrem Mittagsschlaf erwacht war, hatte sie einen jungen Polizisten mit einem Bein über dem Fenstersims erwischt. Sie lebte inzwischen von einer Kost, die nur wenig abwechslungsreicher war als die von Auntie Mim: Toast und Marmelade zum Frühstück, eine Dose mit irgendwas, das sie sich zum Mittagessen erwärmte (da sie die Etiketten nicht lesen konnte, war sie nie sicher, ob Sardinen oder Pfirsichhälften schließlich auf ihrem Teller landeten), und zum Abendbrot Käsecracker. All dies wurde durch viele Süßigkeiten zwischendurch ergänzt. Mutter hatte immer mehr Wochenenden dort verbracht, um die Speisekammer aufzufüllen, ranzige Butterstücke und grünen Käse aus dem Kühlschrank zu entfernen, Marmeladereste vom Boden zu schrubben, die an den Sohlen von Grannys Hausschuhen durchs ganze Haus verteilt wurden, und sich mehr oder weniger geduldig endlose Klagen über Einsamkeit und Schwäche anzuhören.
Granny würde kein einfacher Logiergast sein, das war klar. Aber egal wie viel Ärger meine Mutter sich damit aufhalste, Vater würde noch mehr darunter leiden. Die Ruhe und Privatsphäre, die er so liebte, wären nicht mehr gegeben. Er würde Chauffeur spielen, defekte Geräte reparieren, Kontoauszüge, Aktiendividenden, Einkommensanleihen und Rentenausweise entziffern und dem Sozialamt Besuche abstatten müssen, und das alles ohne die Bande aus Liebe und Pflicht und gemeinsamen Erinnerungen, die es für Mutter - gerade so - erträglich machen würden. Ich sah die Angst in seinem Gesicht, als wir die Neuigkeit auf uns wirken ließen, aber er brach keinen Streit vom Zaun.
»Ich habe ihr gesagt, sie kann nicht viel Plunder mitbringen - nur was ins Gästezimmer passt. Und auf dem Dachboden ist doch noch Platz für ein paar Kisten, oder?«
Vater bestätigte das.
»Und ich habe gesagt, sie kann nicht von uns erwarten, dass wir sie unterhalten - wir werden nicht die Zeit haben, ihr jeden Morgen die Zeitung vorzulesen, wie wir es tun, wenn wir bei ihr sind. Es wird kein Urlaub sein, das sieht sie ein.«
»Mmm. Wann soll ich sie denn holen?«
Entnervt darüber, auf so wenig Widerstand zu stoßen, schwankte Mutter. Sie hatte nicht annähernd mit so viel
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