Seejungfrauen kuesst man nicht
konnte, Röcke hochzuheben und unanständige Gesten zu machen.
Außerdem wurden wir instruiert, nicht vor dreißig zu heiraten. Das war etwas, das man nur in Betracht ziehen sollte, wenn alle anderen Erfahrungsgebiete ausgeschöpft waren. Das war mir ein Rätsel. Lexi hatte mit dreiundzwanzig geheiratet und wirkte nicht wie eine Frau, die unter verpassten Gelegenheiten litt. Ein weiterer fester Grundsatz Lexis lautete, dass ein Mädchen keine Geheimnisse vor seiner Mutter haben sollte. Es war natürlich absolut zulässig, dass Frances sozusagen zu Freizeitzwecken Geheimnisse hatte, aber sie sollte wissen, dass es kein Thema gab, das sie nicht anschneiden konnte.
»Okay. Was ist Oralsex?«, fragte Frances.
Lexi schreckte leicht zurück, bevor sie in gemessenen Ausdrücken eine Erklärung vortrug. Frances tat so, als müsste sie würgen.
»Noch etwas, das du fragen möchtest?«, sagte Lexi, zuversichtlich, dass das Schlimmste vorüber war.
»Hast du je mein Tagebuch gelesen?«
»Nein, nie«, sagte Lexi ohne jedes Zögern. »Mum hat mein Tagebuch gelesen, als ich ungefähr in eurem Alter „ war, weil sie dachte, ich würde mich mit einem nicht standesgemäßen Jungen treffen. Es stand überhaupt nichts Belastendes drin, aber es dauerte Jahre , bis ich ihr verziehen habe. Sie hätte wissen müssen, dass allein die Tatsache, dass ich Tagebuch führte, Beweis meiner Unschuld war. Sobald ich anfing, Dinge zu tun, die sie missbilligte, gab ich das Tagebuch komplett auf. Du siehst also, ich brauche deins nicht zu lesen - solange du es noch führst, weiß ich, dass du dich benimmst.«
Frances war verblüfft.
»Sonst noch was?«
»Wieso hast du Dad geheiratet?«
Diese Frage schien Lexi mehr zu strapazieren als die davor. Auch ich war darüber schockiert, weil sie zu implizieren schien, dass Frances die beiden für ein seltsames Paar hielt, und obwohl ich mich schon oft insgeheim gefragt hatte, wie zwei so unterschiedliche Charaktere zusammengefunden hatten, schien es mir eine Frage zu sein, die dem Produkt einer ehelichen Verbindung niemals auch nur in den Sinn kommen sollte.
»Ich habe ihn geliebt«, sagte Lexi schließlich. »Ich meine, das tue ich immer noch«, fügte sie hinzu.
Auf der Fähre stellten wir unsere Uhren um eine Stunde vor. Dadurch war bereits Zeit fürs Mittagessen, also aßen wir unsere Sandwiches, und dann breitete Lexi ihren Poncho auf einem der langen Sitzplätze an Deck aus und schlief in der Sonne ein. Frances und ich durchstreiften die Schiffskorridore, verloren unser letztes englisches Kleingeld an den Spielautomaten, kicherten über die Mitreisenden und sahen durch die Fenster der Duty-Free-Shops. Kurz vor Boulogne wachte Lexi auf, sah leicht zerknittert aus, weil sie Abdrucke der Ponchoquasten auf den Wangen hatte, und verschwand auf der Damentoilette, um sich wieder herzurichten. Sie kam mit einer Tüte zurück, in der sich zwei Flaschen Parfüm befanden - Chanel No. 5 für Frances und No. 19 für mich. Ich war vor Dankbarkeit und Freude sprachlos. Ich hatte noch nie vorher solch ein großzügiges und extravagantes Geschenk bekommen, hatte noch nie eigenes Parfüm gehabt. Meine begrenzte Erfahrung bestand aus einem gelegentlichen Spritzer vom Tweed meiner Mutter und einem verbotenen Tupfer aus ihrer alten Flasche Joy. Ich brachte es kaum über mich, die Verpackung zu beschädigen, während Frances ihre sofort aufriss und sich mit einem Schwung besprühte, der mich an Mutter erinnerte, wenn sie den Kampf gegen die Blattläuse aufnahm.
»Sachte«, tadelte Lexi sie milde. »Man strebt einen subtilen Effekt an.«
Als das Auto auf französischen Boden rollte, sah ich Frances bedeutungsvoll an, obwohl ich nicht erwarten konnte, dass der Augenblick sie, die erfahrene Reisende, ebenso beeindrucken würde wie mich. Ich suchte die Landschaft nach Anzeichen von Fremdheit ab, während Lexi, die Straßenkarte offen auf dem Beifahrersitz, uns auf der rechten Straßenseite nach Paris, unserer ersten Station, lotste. TOUTES DIRECTIONS/AUTRES DIRECTIONS stand auf einem Straßenschild. Frances und ich erfanden ein Spiel, bei dem man die Bedeutung der Werbeslogans an den Reklamewänden am Straßenrand erraten musste: Manchmal war es schon schwer genug, das Produkt zu identifizieren.
Lexi mied wie immer die Autobahn, wegen der Gebühren und um uns einen besseren Eindruck von der Landschaft zu vermitteln, wie sie sagte. Gelegentlich drehte sie unsere Musik leiser, um uns irgendeine Kirche oder ein
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