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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Lieblingsstadt.« Die Muscheln wurden serviert, als er gerade mitten in einem ausführlichen Bericht über seine erste Parisreise im Alter von sechzehn war. »Es war ein Austausch, den die Schule organisiert hatte - wurde damals als ziemlich abenteuerlich angesehen. Mein Austausch-Schüler war ein Junge namens Alain, der genauso hoffnungslos in Englisch war wie ich in Französisch. Wir haben die gesamten zwei Wochen damit verbracht, uns anzugrinsen und mit den Schultern zu zucken. Der Vater war ein griesgrämiger kleiner Beamter, der den ganzen Tag im Büro war und uns nirgendwo mit hinnehmen konnte, wo es interessant war, und Madame sprach kein Wort Englisch - na ja, so weit ich sehen konnte, schien sie überhaupt nicht zu sprechen, sie produzierte nur zu jeder Mahlzeit dieses fremde Essen. Ich war ausgesprochen unglücklich. Aber er hatte eine Cousine, die Delfine hieß und ein bisschen Englisch konnte, deshalb schleiften sie sie von Versailles herüber, damit sie mit mir redete und mir Paris zeigte - ich glaube, sie fühlten sich unwohl, weil ich mich offensichtlich nicht amüsierte -, und natürlich verliebte ich mich wahnsinnig in sie, und der ganze Besuch war plötzlich wunderbar. Und dann waren die zwei Wochen um und ich musste nach Hause fahren, und das war es dann.«
    »Seid ihr nicht in Verbindung geblieben?«, wollte Frances, Briefschreiberin von Rang und Namen, wissen.
    »Wir haben uns noch ein paar Jahre geschrieben, aber dann hörten die Briefe auf, deshalb habe ich schließlich an Alain geschrieben und nach ihr gefragt, nur so beiläufig, und ich bekam einen Brief zurück, in dem stand, dass sie alle niedergeschmettert waren, weil sie in der Seine ertrunken war - anscheinend bei dem Versuch, einen Hund zu retten.«
    »Oh!«, sagte Frances. Keine von uns hatte damit gerechnet, dass die Geschichte eine so tragische Wendung nehmen würde. Wenn Mr. Radley sie erzählt hätte, hätten wir sie für erfunden gehalten.
    Die Schüsseln mit Muschelschalen wurden abgetragen und durch vier Tabletts mit Schnecken in Knoblauchbutter und vier Häkelhaken ersetzt. Ich schloss die Augen. Ich war schon satt von dem Brot.
    »Auf keinen Fall«, sagte Frances. (Schließlich war sie es gewesen, die beim Präparieren in der Biologiestunde die vegetarische Wahlmöglichkeit in Anspruch genommen hatte.)
    »Ach, du meine Güte«, sagte Lexi, wählte ein Schneckenhaus aus und stocherte darin herum. »Du isst Steaks, aber du isst keine Schnecken. Wo ist da der Unterschied?«
    »Ich bin schon mal auf eine Schnecke getreten«, sagte Frances. »Ich habe das Zeug gesehen, das aus ihnen herausquillt. Aber wenn meine Inkonsequenz dich stört, gebe ich auch das Steakessen auf.«
    »Okay, okay«, sagte Lexi, die ausmanövriert war. Alle schauten mich an, um zu sehen, was ich tun würde. Ich nahm meinen Häkelhaken in die Hand. Loyalität war ja schön und gut, aber man konnte von mir nicht verlangen, dass ich Frances‘ Schlachten alle mitschlug, und Lawrence gegenüber hätte es ein wenig unhöflich gewirkt. Als Nächstes kam eine Terrine mit geschmortem Perlhuhn auf den Tisch, und ich spürte, wie mir auf der Stirn der Schweiß ausbrach. Ich öffnete behutsam den Knopf an meinem Rock, und der Reißverschluss platzte auf wie eine überreife Frucht.
    Der Nachmittag schritt voran. Es sah so aus, als würde Notre-Dame unbesichtigt bleiben. Aber ich hatte ja meinen Louvre-Katalog, den ich als Andenken mit nach Hause nehmen konnte. Ich hatte Lust auf ein Eis gehabt und mich gezwungen gefühlt, einen meiner Hundertfrancscheine anzubrechen, indem ich einen Gegenstand von kulturellem Wert kaufte, den mein Vater gutheißen würde.
    Frances‘ widerspenstige Stimmung hielt den ganzen Tag an. Abgesehen von ihrer Abscheu gegen die Schnecken gab sie keinen Kommentar zu dem Essen ab, das köstlich war, selbst für meinen unerfahrenen Gaumen. Als Lawrence sich zwischen den Gängen eine Zigarette anzündete, schlug sie gereizt den Rauch weg, und als Lexi nach einem zweiten Glas Wein griff, gab sie ein lautes, missbilligendes Zischen von sich. Und dann, genau in dem Moment, als der Dessertwagen sich näherte, für Frances normalerweise der Höhepunkt des Mahls, sprang sie plötzlich auf und sagte: »Seht mal, da ist ein Telefon - ich könnte zu Hause anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist.« Und sie fing an, nach ihrem Portemonnaie zu suchen.
    »Doch nicht sofort, oder?«, sagte Lexi.
    »Wieso nicht?«, sagte Frances. »Ich will wissen, wie es

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