Seejungfrauen kuesst man nicht
»Ich werde so tun müssen, als hätte ich im Stehen geschlafen«, sagte sie lachend.
Sie waren den ganzen September weg. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass ein Monat so lang sein konnte. Die Frage, ob ich sie hätte begleiten können, hatte sich nicht gestellt. Meine Mutter hätte mir nie erlaubt, auch nur einen Tag Unterricht zu versäumen, und war schockiert darüber, dass die Radleys die Schwänzerei ihrer Tochter auch noch unterstützten. Ich hatte angeboten, in der letzten Ferienwoche auf Granny aufzupassen, um meine Eltern zu entlasten. Diese Selbstlosigkeit meinerseits hatte sie in ein Dilemma gebracht: Einerseits hatten sie Angst, mich unbeaufsichtigt zurückzulassen, andererseits den verzweifelten Wunsch, einmal rauszukommen.
Die Situation zu Hause wurde langsam unerträglich, da die Ansprüche meiner Großmutter immer größer wurden. Sie erwartete alles und war dankbar für nichts. Es war unmöglich, ihr eine einmalige Gefälligkeit zu erweisen, wie ihr etwas vorzulesen, sie auszuführen, ihr die Haare zu waschen und zu legen oder ihr das Frühstück ans Bett zu bringen, ohne dass sie es bösartig kommentierte. »Es wird langsam Zeit, dass mir jemand etwas vorliest. Kannst du dir vorstellen, dass ich gestern von sieben Uhr morgens bis zum Abendbrot hier gesessen habe, ohne eine Menschenseele zu sehen? So was von langweilig: Ich bin froh, wenn ich tot bin. Und ihr auch, kann ich mir vorstellen.« Was vielleicht als Gefälligkeit begann, wurde schnell zur Pflicht. Eine besondere Freude wurde im Handumdrehen als Recht angesehen. Und, so ist die menschliche Natur, obwohl die Erfüllung dieser Pflicht ihr anscheinend keine Freude bereitete, gab ihre Vernachlässigung Anlass für die bittersten Vorwürfe.
Nicht zufrieden damit, bei Tage die unhöflichste Kranke zu sein, die man sich vorstellen konnte, hatte Granny eine akute Schlaflosigkeit entwickelt und vertrieb sich die Stunden vor der Morgendämmerung damit, in voller Lautstärke Radio zu hören. Glücklicherweise lag mein Zimmer am anderen Ende des Treppenabsatzes, aber meine Eltern, deren Zimmer neben Grannys war, mussten das nächtliche Bombardement ertragen. Sie hatten schon verschiedene Tricks versucht, um den Lärm zu reduzieren. Vater kaufte einen Adapter mit eigenem Hörer, den Granny tragen sollte wie ein Hörgerät, aber sie zappelte im Bett und verhedderte sich im Kabel und riss es schließlich frustriert aus der Steckdose. Dann kaufte er ein spezielles Zusatzteil für den Lautsprecher, das dünn genug war, dass es unter ein Kissen passte, aber Granny, die sich die Empfindsamkeit einer Prinzessin auf der Erbse zugelegt zu haben schien, behauptete, es wäre wie auf einem Backstein zu liegen.
Meine Eltern hatten die Möglichkeit geprüft, meine Großmutter eine Woche lang in einem Heim unterzubringen, damit wir drei zusammen wegfahren konnten, aber ein wirklich sehr kurzer Blick reichte aus, um sie davon zu überzeugen, dass dies kein Erfolg versprechendes Arrangement sein würde.
»Es wäre dem Pflegepersonal oder den Insassen, ich meine Bewohnern, gegenüber nicht fair«, sagte Mutter eines Abends, als sie von der Inspektion einiger Institutionen zurückkam. »Im letzten schienen sie gerade gemeinsam zu singen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie da mitmacht.«
Die billigeren Heime waren zu deprimierend, hatten Zweibettzimmer, es lief den ganzen Tag über ITV, die Bewohner spielten Bingo oder waren katatonisch, und es stank nach Urin. Die teuren rochen zwar besser und hatten hübschere Tapeten, waren aber, nun ja, teuer.
»Wie schade«, sagte Vater, während er eine Hochglanzbroschüre mit Bildern von gepflegten, lächelnden älteren Frauen und gepflegten, lächelnden Schwestern überflog, die in etwas saßen, das aussah wie die Parkanlagen eines herrschaftlichen Anwesens. »In diesen Häusern kriegt man offensichtlich eine bessere Form von Demenz.«
»Ich lasse mich nicht abschieben«, erwiderte Großmutter, als das Thema angeschnitten wurde. »Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Eine Woche lang«, fügte sie hinzu, damit niemand auf falsche Ideen kam.
»Wir lassen dich nicht allein. Stell dir vor, du fällst hin!«, sagte Mutter.
»Ich habe doch gesagt, ich bleibe hier. Ich passe ganz gern auf Granny auf«, sagte ich, »Eine Woche lang.«
Da dies die beste Lösung war, fuhren Mutter und Vater in ihren Wanderurlaub in Snowdonia. Mit den Schuldgefühlen, Granny zurückzulassen und den Sorgen, mich allein
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