Seekers - Feuer im Himmel - Band 5
KAPITEL
Lusa
Lusa spürte, wie der langsame Schlag ihres Herzens mit dem Rhythmus des Erdherzschlages eins wurde. Zum ersten Mal seit Langem war ihr warm und behaglich zumute. Obwohl die Sonne nicht schien, durchströmte ihre Wärme Lusas Körper und versprach ihre baldige Rückkehr. Lusa war eingehüllt in die vertrauten Gerüche der Bären, die sie kannte und liebte. Aisha, King, Yogi und Stella aus dem Bärengehege waren um sie und trösteten sie. Sie sah die Gesichter Toklos, Kalliks und Ujuraks, die endlich ihren Frieden mit der Welt gemacht hatten.
Diesen Frieden spürte auch sie. Alle waren in Sicherheit. Lusa atmete die ganze Welt ein, war durch jedes Schnurrhaar mit ihr verbunden. Bald würde die Laubzeit zurückkehren. Aber bis dahin konnte sie in Frieden schlafen.
Da stieß ihr unvermittelt etwas Spitzes in den Bauch und störte ihren Traum wie ein unwillkommener Sonnenstrahl in einer dunklen Höhle. Lusa wollte sich wegdrehen, doch da pikste sie auch auf der anderen Seite etwas. Die Flucht zurück in den Schlaf war ihr verwehrt. Nach und nach beschleunigte sich ihr Atem und sie spürte wieder das kalte, harte Eis unter sich.
»Lusa! Lusa! Lusa!« Die Stimmen ihrer Freunde waren laut und aufdringlich. Lusa vergrub den Kopf unter den Tatzen, damit sie sie nicht hören musste. Sie wollte zurückkehren an ihren friedlichen Ort. Sie wollte schlafen.
»Nein, Lusa, wach auf! Du musst aufwachen!«, bellte Toklo und stieß sie wieder in die Flanke. Aus seinem Maul war noch der Robbenkadaver zu riechen, fleischig und fett. Ein grimmiger Wind fuhr Lusa in die Nase und füllte sie mit dem Geruch von Schnee und Eis. Sie zitterte, denn der Sturm fegte ihr eiskalt durch die Knochen. Warum taten ihre Freunde ihr das an? Warum ließen sie sie nicht einfach schlafen?
»Hau ab, Toklo!«, knurrte sie. Sie schob seine Tatzen weg. »Du machst alles kaputt! Ich will nicht aufwachen! Es ist so schön warm, wenn ich schlafe. Geh weg und lass mich in Ruhe schlafen!«
»Lusa, das geht nicht.« Die Angst in seiner Stimme war wirksamer als das Piksen und Stupsen: Sie rieb sich die Augen und blinzelte ihn an. Die Welt war ein greller Wirbel aus weißem Schnee und heulendem Wind, der mit voller Wucht auf sie einpeitschte. Sie wollte nicht aufwachen, doch Toklo beugte sich besorgt über sie. »Du darfst nicht hier draußen im Freien schlafen, Lusa«, brummte er. »Hier ist nicht der richtige Ort. Du darfst nicht schlafen.«
Die Erinnerung an Ashia, die ihr im Traum dasselbe gesagt hatte, streifte Lusa. Sie riss sich zusammen und setzte sich auf, doch schon das raubte ihr die letzte Kraft. »Warum?«, jammerte sie. »Was … was ist nur los mit mir?« Sie sah Kallik an, die sich von der anderen Seite an sie geschmiegt hatte und in deren Augen sich Toklos angstvoller Blick spiegelte. Ujurak wanderte im Kreis um sie herum, schüttelte sich den Schnee aus dem Fell und betrachtete sie sorgenvoll.
»Das ist der Lange Schlaf«, erklärte Toklo ruhig. »Braunbären halten ihn, wenn das kalte Wetter einsetzt und der Erdschlaf die Lebewesen in ihre Höhlen treibt, wo sie auf die Rückkehr des Fischsprungs warten. Sie verkriechen sich, verschlafen die kalten Monate und kommen erst bei warmem Wetter wieder heraus, wenn sie genug Nahrung zum Überleben finden.« Er schüttelte den Kopf und vergrub die Nase in ihrem Fell. »Ich wusste nicht, dass Schwarzbären das auch machen. Aber das muss es sein, was gerade mit dir geschieht: Du spürst den Sog des Langen Schlafs.«
»Nicht zu fassen, dass ich das vergessen habe«, bemerkte Ujurak schuldbewusst. »Ich hätte es wissen müssen.«
Lusa schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe im Bärengehege nie von einem Langen Schlaf gehört. Hätte meine Mutter mir nicht davon erzählt, wenn Schwarzbären so etwas machen würden?«
»Vielleicht tun sie es nur in der Wildnis«, erwiderte Toklo. Ujurak nickte. »Aber hier draußen darfst du nicht einschlafen, Lusa. Du würdest erst wieder aufwachen, wenn das Eis schmilzt. Doch wo solltest du dann hin?«
Wahrscheinlich wache ich auf, wenn ich ins Wasser falle, dachte Lusa, aber sie wusste, dass Toklo recht hatte. Wenn sie im Meer aufwachte, Himmelslängen von der Küste entfernt, ohne Anhalt, in welche Richtung sie schwimmen musste, würde sie mit Sicherheit umkommen. Vorausgesetzt, sie würde die Monde des Erdschlafs hier draußen überhaupt überleben, wo jeder Eisbär sie finden und auffressen oder sie in den Eisstürmen erfrieren
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