Seekers. Sternengeister: Band 6 (German Edition)
freundliches Gelächter. »Du hast aber wirklich Hunger«, stellte jemand fest.
Ujurak starrte verlegen auf seinen Teller. »Entschuldigung.« Ich muss daran denken, wie Flachgesichter fressen!
Eva zauste ihm durchs Haar. »Keine Sorge, Ujurak. Ich sehe es gern, wenn die Leute mit Appetit essen.«
Während Ujurak den Löffel in die Hand nahm und fortan langsamer aß, lauschte er der leisen Unterhaltung der anderen.
»Ich fühle einen Sturm aufziehen«, sagte einer der älteren Männer. »Mir tun wieder die Knochen weh.«
»Dir tun andauernd die Knochen weh, Amaruq«, sagte sein Nebenmann und knuffte ihn freundschaftlich.
»Es kommen ja auch andauernd Stürme«, erwiderte Amaruq gelassen. »Hoffentlich sind wir ausreichend geschützt, hier am Fuß des Berges.«
Sobald Ujurak mit Essen fertig war, führte Eva ihn wieder aus dem Iglu heraus. »Jetzt bringe ich dich zu meinem Großvater Tulugaq«, sagte sie.
Sie geleitete ihn zu einem Iglu auf der anderen Seite der Mittelgruppe. Ujuraks Haut begann zu kribbeln, als sie näher kamen, und er musste gegen ein inneres Zittern ankämpfen, so aufgeregt war er. Ein lautes Krächzen von oben ließ ihn zusammenzucken, und als er aufblickte, sah er einen Raben über dem Iglu kreisen.
»Hab keine Angst«, sagte Eva lachend. »Mein Großvater füttert die Vögel so gern. Reine Verschwendung von kostbarem Brot«, fügte sie hinzu, doch sie lächelte dabei, und Ujurak begriff, dass sie nur Spaß machte.
Eva bückte sich, um das Iglu zu betreten, und Ujurak folgte ihr. Das einzige Licht im Innenraum kam von einer Lampe, die auf dem Schneesims an der Wand stand. Ein muffiger Geruch von Vögeln und ungewaschenen Fellen hing schwer in der Luft. Fast wäre Ujurak über einen Gegenstand auf dem Boden gestolpert, bei näherem Hinsehen stellte er fest, dass es der Federmantel war, der zusammengefaltet dalag, wie ein abgestürzter Vogel.
Im ersten Moment glaubte er, das Iglu sei leer, dann aber bemerkte er, dass sich etwas zwischen den Fellen auf dem erhöhten Schlafbereich regte.
»Großvater, du hast Besuch«, verkündete Eva.
Ein sehr alter Mann lugte zwischen den Fellen hervor. Sein dünnes Haar war schneeweiß, sein Gesicht durchzogen von den Falten der Weisheit und Erfahrung.
»Willst du etwas zu essen, Großvater?«, fragte Eva, beugte sich über den Alten und half ihm, sich aufzusetzen. »Oder Wasser? Ist dir warm genug? Ich könnte dir noch ein paar Felle bringen.«
Eine dünne, knochige Hand schob sich aus dem Deckenberg hervor und gab ihr ein Zeichen, sich zu entfernen. »Ich brauche nichts, Eva. Lass mich nur.«
Eva ergriff für einen Moment seine Hand, dann wandte sie sich zum Gehen. Bevor sie im Tunnel verschwand, drehte sie sich noch einmal zu Ujurak um. »Denk dran, nicht so lange zu bleiben«, schärfte sie ihm nochmals ein.
Als Eva fort war, stand Ujurak stumm vor Tulugaq. Der Alte starrte ihn mit einem so bohrenden und anhaltenden Blick an, dass es Ujurak bald unbehaglich wurde.
»Du bist also gekommen«, meinte Tulugaq schließlich. »Ich war mir nicht sicher, ob du es verstanden hattest.«
»Du … du siehst anders aus in meinem Traum«, stammelte Ujurak.
Tulugaq ließ ein heiseres Lachen hören. »In meinen Träumen bin ich immer noch ein junger Mann.«
»Und ein Rabe!«, platzte Ujurak heraus. Die Erregung, die in ihm aufbrandete, war stärker als die Nervosität.
»Ja.« Tulugaq neigte den Kopf. »Ich bin stets ein Rabe.«
»Bist du wie ich?« Die Worte sprudelten jetzt aus Ujurak heraus. »Kannst du dich in alles verwandeln?«
Tulugaq zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Nein, nur in einen Raben. Oder vielleicht bin ich ein Rabe, der sich in einen Menschen verwandelt«, fügte er mit listigem Lächeln hinzu.
»Woher weißt du das?«, fragte Ujurak.
Der Blick des Alten schien sich in die Ferne zu richten, weit über die Wände des Iglus hinaus. »Als ich jünger war«, begann er, »lebte ich für die Lüfte, das stille Meer über dem Boden, wo meine Flügel mich überallhin tragen konnten. Ich habe so viel gelernt auf diesen Reisen. Damit hatte ich Antworten für jeden, der mich besuchen kam.« Er hielt inne und seufzte. »Doch jetzt bin ich alt, und ich möchte meine Familie um mich haben, während ich darauf warte, mich mit meinen Ahnen im Himmel zu vereinen.«
Ujurak starrte ihn an. »Du meinst die Lichter? Das sind auch eure Ahnen?«
»O ja«, erwiderte Tulugaq. »Das sind die Selamiut, alle Menschen, die vor uns auf dem Eis gelebt
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