Seekers. Sternengeister: Band 6 (German Edition)
schoss in Wolken aus ihrem Maul, und es war, als liefe sie durch Nebel. Bald schon konnte sie keinen Schritt weit mehr sehen, und dann spürte sie die Anwesenheit eines anderen Bären, der neben ihr herzueilen schien.
»Ujurak?«, fragte sie unruhig. »Yakone?«
»Hab keine Angst, meine Kleine«, flüsterte eine Stimme. »Du bist nicht verloren. Ich bin bei dir.«
Kallik blieb stehen und holte zitternd Luft, denn sie hatte die Stimme ihrer Mutter erkannt. Als sie sich zu Nisa umdrehte, konnte sie lediglich eine weiße Gestalt ausmachen, kaum zu erkennen im Nebel.
Die eine Frage, die Kallik auf der Seele brannte, schoss sogleich aus ihr heraus: »War es ein großer Fehler von mir, Kissimi an mich zu nehmen?«
Nisa sprach mit sanfter Stimme, und es klang wie das, was Ujurak gesagt hatte. »Du hast ihn zum Teil deines Schicksals gemacht. Jeder Schritt, den du tust, ist einer, den du selbst gewählt hast. Vergiss das nicht.«
»Aber ich konnte ihn nicht sich selbst überlassen!«, jammerte Kallik. »Seine Mutter war doch tot!«
Nisas warme Augen leuchteten im Nebel. »Ah, du hast an mich gedacht, nicht wahr? Aber du und Taqqiq, ihr hattet niemanden, der für euch sorgen konnte. Kissimi hat andere Bären.«
»Aber ich nicht«, klagte Kallik. Sie empfand eine schreckliche Verlassenheit. »Keine Eisbären, dich nicht und meinen Bruder auch nicht.« Sie sehnte sich so danach, eine Familie zu haben! Gleichzeitig hatte sie Schuldgefüle, wenn sie daran dachte, wie sie sich von Taqqiq getrennt hatte.
»Taqqiq hat seinen eigenen Weg gewählt.« Nisas warmer Atem strich über Kalliks Fell und schenkte ihr Trost. »So wie auch du den deinen gewählt hast. Und was Kissimi angeht, kannst du dich noch immer entscheiden …«
Bei den letzten Worten begann Nisas Stimme zu verklingen. Gleich darauf war die weiße Gestalt verschwunden. Wind kam auf, blies den Nebel auseinander und enthüllte einen nackten Berghang, auf dem Kallik stand, den Hasen im Maul. Der Himmel über ihr war weiß und leer, keine Spur von den Seelen.
War jetzt wirklich gerade meine Mutter bei mir?, fragte sich Kallik verwundert. Oder habe ich das nur geträumt?
Während sie noch so dastand, spürte sie ein Ziehen an ihrem Fell. Es war, als ob Kissimi sie zurückriefe. So fest war das Band zwischen ihnen mittlerweile geworden. Und da endlich entdeckte Kallik eine Erhebung im Gelände, die ihr bekannt vorkam. Was für ein Glück! Den Kopf gegen den pfeifenden Wind gesenkt, machte Kallik sich auf den Weg zurück zur Höhle.
18. KAPITEL
Ujurak
Auf dem Hügelkamm stehend, hatte Ujurak kaum mitbekommen, dass Kallik ihn allein zurückließ. Stattdessen war er völlig in der Erinnerung an das versunken, was er in der Nacht zuvor geträumt hatte.
Sternenlicht glitzerte auf dem Schnee. Ujurak starrte in den Himmel und zeichnete in Gedanken die Umrisse seiner Mutter nach. Sie schien so nahe, fast hatte er das Gefühl, er brauche nur die Tatze auszustrecken, um sie zu berühren.
Dann aber begannen die Sterne sich zu drehen. Die Gestalt seiner Mutter verschwand, als die Sterne wirbelnd in einem glitzernden Strudel zusammenflossen, um gleich darauf wieder auseinanderzuschießen und eine neue Form anzunehmen.
Ujurak hielt staunend den Atem an, als er die weit ausgebreiteten Flügel, den keilförmigen Schwanz und den starken Schnabel sah – und den rauen Schrei hörte, der aus diesem Schnabel drang.
Ein Rabe!
Der Sternenvogel tauchte herab, kreiste einige Male um Ujuraks Kopf und landete dann neben ihm. Kaum hatten seine Klauen den Boden berührt, begann er zu wachsen, die Federn bauschten sich nach außen, der Schnabel schrumpfte und verschwand, ebenso wie die Federn auf dem Gesicht und den Flügeln. Ein großes, stattliches Flachgesicht stand neben Ujurak, in einen Umhang aus schwarzen Federn gehüllt. Schnee wirbelte auf, umschwebte ihn glitzernd und bildete einen eisigen Nebel.
Nachdem Ujurak wie betäubt dem Schauspiel zugesehen hatte, wandte das Flachgesicht sich ihm zu und gab ihm ein Zeichen. Gleich darauf schien sich seine Gestalt im Nebel aufzulösen. Kurz bevor es endgültig verschwand, öffnete es den Mund, doch alles, was herausdrang, war das raue Krächzen eines Raben.
Ujurak zitterte am ganzen Leib. Er machte sich klar, dass er noch immer auf dem Höhenkamm stand und zu den Schneehöhlen hinunterblickte. Er erinnerte sich an den Ruf des Sternenvogels und des Flachgesichts, nicht zu unterscheiden von dem Schrei des Raben, der über seinem Kopf
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