Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
an sich. »Ich hab’s versucht, aber nie geschafft. Natürlich gab’s andere Beziehungen in diesen dreißig Jahren. Ich war zwei Mal verheiratet, aber immer bist es du gewesen, die ich in jeder Frau gesucht hab.« Er lächelt, aber es ist ein wehmütiges Lächeln. »Du warst meine ganz große Liebe, Dorle. Und du bleibst meine ganz große Liebe.«
»Aber warum hast du dann Schluss gemacht? Ich hätte auf dich gewartet, bis du wieder aus dem Internat ...«
»
Ich
soll Schluss gemacht haben? Du warst doch diejenige, die mir geschrieben hat:
Ich will dich nicht mehr!
Ohne ein Wort der Erklärung, nichts, nur dieser eine Satz, der mich so unendlich getroffen hat. Und für mich gab es keine Möglichkeit, mit dir zu reden, nicht einmal anrufen konnte ich dich. Am liebsten wäre ich aus dem Internat getürmt, aber das habe ich dann doch nicht gemacht. Vielleicht auch, weil ich dachte, dass du einen anderen hast.«
»Da war niemand, das schwör ich dir. Aber ich habe das alles ganz anders in Erinnerung. Bine – sie hieß Sabine, oder? – hat mir meine letzten Briefe an dich zurückgegeben. Du würdest beim Mittagessen im Speisesaal den anderen Jungs daraus vorlesen, hat sie gesagt, ihr würdet euch kranklachen über mich. Uli, das war so entsetzlich. Ich kam mir so furchtbar bloßgestellt vor. Am liebsten möchte ich gar nicht mehr daran erinnert werden.«
Einen Moment lang befürchte ich, dass er aufsteht und geht, aber dann sagt er entschieden: »Aber
ich
muss mit dir darüber reden, und zwar jetzt.«
Er richtet den Blick in die Ferne, als könne er damit die Vergangenheit heranholen. Zögernd, als suche er nach Worten, beginnt er. »Zwei Tage nach dem
Vorfall
, wie meine Mutter es nannte, war ich ja schon im Internat. Das ging nur deshalb so schnell, weil sie den Leiter gut kannte und ihm gegenüber so getan hat, als würdest du die Moral des Abendlandes gefährden. Und
das
Anfang der achtziger Jahre, das kann man heute gar nicht mehr verstehen.«
»Deine Mutter hatte aber in allem Vorstellungen wie aus dem vorletzten Jahrhundert.«
»Aber wir haben sie ausgetrickst mit unseren Briefen. Erinnerst du dich noch, wie prima wir das organisiert hatten?«
»Ja«, sage ich, »natürlich erinnere ich mich. Ich habe Moni meine Briefe gegeben, dafür hat sie jeden Monat die Hälfte meines Taschengeldes verlangt. Die Briefe gingen dann weiter an ihre Schwester Bine. War sie nicht Küchenhilfe in eurem Internat?«
»Und sie hat mir deine Post immer unter den Teller gelegt. Bine hat übrigens auch kassiert. Jeder Brief, der an dich ging, kostete eine Mark, für mich ein halbes Vermögen damals. Weißt du noch, wie wir unsere Post mit Kerzenwachs versiegelt haben, aus Angst, Bine würde sie lesen?« Er lacht, wird dann wieder ernst. »Und am siebzehnten Oktober lag dann mittags wieder ein Brief unter meinem Teller, versiegelt wie immer, aber ich hatte gleich ein merkwürdiges Gefühl. Vielleicht, weil dieser Brief nicht so dick war wie sonst. Und dann musste ich das Todesurteil lesen, auf einem karierten Blatt, achtlos aus einem Heft herausgerissen:
Ich will dich nicht mehr!
«
Seine Stimme klingt bitter, als er das sagt. Einen langen Moment schweige ich, dann streiche ich ihm tröstend über den Arm. »Uli, was auch immer war: Niemals habe ich das geschrieben. Ich schwöre es dir!«
»Das war das letzte Mal, dass Post von dir kam. Ich habe gewartet und gehofft, aber umsonst. Bine hat mir dann erzählt, du seist schon eine ganze Weile mit Andreas zusammen.«
Ich schlucke. »Stimmt. Aber das war lange danach. Glaub mir, erst mal ging es mir wirklich schlecht, weil du auf keinen meiner Briefe mehr geantwortet hast. Ein paar Wochen lang hab ich nur noch geheult. Und Schokolade gegessen, wenn ich mal nicht geheult habe. Außer Andreas wollte beim Weihnachtsball keiner mit mir tanzen. Wahrscheinlich, weil ich ständig rote Augen vom Heulen hatte. Meinst du, Moni weiß etwas?«, frage ich nach einer Weile.
»Moni? Wovon sollte sie denn wissen?«
»Hat sie irgendwann mit dir über damals gesprochen?«
»So viel Kontakt hab ich auch nicht mit ihr. Wir sehen uns ab und zu auf der Straße, wir grüßen uns flüchtig, wechseln vielleicht auch ein paar Worte, aber wir sprechen doch nicht über diese Sache.«
»Und was ist mit ihrer Schwester?«
»Ich glaube, sie ist vor einem halben Jahr gestorben.«
»Mich interessiert aber immer noch, wer diesen einen Satz geschrieben hat. Ich war es jedenfalls nicht.«
Wieder schweigen
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