Seelen der Nacht
Weinflaschen aus meinen erschlaffenden Fingern und trug sie in eine Art schicker Abstellkammer. »Im All Souls hält man nichts davon, dass die Fellows in ihren Apartments speisen«, erklärte er, während ich kurz die sparsam ausgestattete Küche inspizierte. »Also müssen wir uns so gut wie möglich behelfen.« Matthew versenkte den Champagner in einen Eiskübel und setzte sich zu mir in einen der gemütlichen Sessel vor dem toten Kamin. »Inzwischen darf man in ganz Oxford kein offenes Feuer mehr machen.« Er zeigte bedauernd auf die leere Feuerfläche. »Wenn alle Kamine brannten, roch es in der Stadt wie bei einem Freudenfeuer.«
»Wann bist du das erste Mal nach Oxford gekommen?« Ich hatte die Frage offen formuliert, damit es nicht so aussah, als wollte ich in seinen vergangenen Leben herumstochern.
»Diesmal 1989.« Er streckte mit einem wohligen Seufzen die langen Beine aus. »Damals kam ich als Student der Naturwissenschaften ans College Oriel und blieb dort bis zum Abschluss meiner Doktorarbeit. Als ich ein Stipendium fürs All Souls bekam, wechselte ich für ein paar Jahre hierher. Nachdem ich meinen Abschluss gemacht hatte, bot mir die Universität eine Stelle an, und das College des All Souls nahm mich als Fellow auf.« Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, kam etwas heraus, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ein Stipendiat des All Souls? Davon gab es nur zwei pro Jahr.
»Aber es ist dein erstes Mal im All Souls?« Ich biss mir auf die Lippe, und er lachte.
»Bringen wir es hinter uns.« Er hob beide Hände und begann die
verschiedenen Colleges abzuzählen. »Ich war – je einmal – Mitglied im Merton, Magdalen und University College. Je zweimal im New College und im Oriel. Und dies ist das erste Mal, dass mir das All Souls die Ehre erweist.«
Ich multiplizierte seine Antwort mit dem Faktor Cambridge, Paris, Padua und Montpellier – die allesamt, davon war ich überzeugt, irgendwann einen Studenten namens Matthew Clairmont (oder so ähnlich) in ihren Büchern geführt hatten –, und ein schwindelerregender Reigen von universitären Abschlüssen tanzte vor meinem inneren Auge. Was hatte er wohl in all diesen Jahren studiert, und mit wem hatte er studiert?
»Diana?« Matthews spöttische Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Hast du mich gehört?«
»Entschuldige.« Ich schloss die Augen und krallte die Finger in die Schenkel, damit meine Gedanken nicht sofort wieder abschweiften. »Es ist wie eine Krankheit. Sobald du anfängst, von früher zu erzählen, geht die Neugier mit mir durch.«
»Ich weiß. Das ist nur eines der Probleme, denen sich ein Vampir stellen muss, wenn er seine Zeit mit einer hexenden Historikerin verbringt.« Matthew hatte den Mund ironisch zu einem strengen Strich zusammengezogen, aber seine Augen funkelten wie schwarze Sterne.
»Wenn du diese Probleme in Zukunft vermeiden möchtest, würde ich dir vorschlagen, dich möglichst nicht mehr in der paläographischen Abteilung der Bodleian herumzutreiben«, gab ich schnippisch zurück.
»Mehr als eine Historikerin wäre mir eindeutig zu viel.« Matthew erhob sich mühelos. »Ich habe dich gefragt, ob du hungrig bist.«
Warum er mich immer noch fragte, war mir ein Rätsel – wann wäre ich schon einmal nicht hungrig gewesen?
»Ja«, sagte ich und versuchte mich aus dem tiefen Sessel zu wuchten. Matthew reichte mir die Hand. Ich ergriff sie, und er zog mich mit Leichtigkeit heraus.
Wir standen so nah beieinander, dass sich unsere Körper beinahe
berührten. Mein Blick senkte sich auf die Ausbuchtung unter seinem Pullover, wo die Bethanien-Ampulle baumelte.
Seine Augen tasteten mich flüchtig ab und hinterließen die typische Schneeflockenspur. »Du siehst bezaubernd aus.« Ich senkte den Kopf, und wie immer fiel mir eine Strähne ins Gesicht. Er hob wie jedes Mal die Hand und strich sie hinter mein Ohr. Diesmal wanderte seine Fingerspitze anschließend hinter meinem Ohrläppchen abwärts. Er hob mir die Haare aus dem Nacken und ließ sie durch seine Finger gleiten wie Wasser. Ich bekam eine Gänsehaut, als die kühle Luft über meine Haut strich.
»Ich liebe dein Haar«, murmelte er. »Es schimmert in allen vorstellbaren Farben – sogar rot und schwarz.« Ich hörte, wie er scharf Luft holte, woraus ich schloss, dass er einen neuen Duft aufgeschnappt hatte.
»Was riechst du?« Meine Stimme war belegt, und ich wagte immer noch nicht, ihm in die Augen zu sehen.
»Dich«, hauchte er.
Mein Blick
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