Seelen der Nacht
ohne anzuhalten am Eingang des Hertford College vorbeigingen, legte ich die Hand auf seinen Arm. In Oxford gab es ein College, das berüchtigt für seine Exklusivität und das überaus strenge Protokoll war.
Außerdem war es für seine brillanten Collegemitglieder berühmt.
»Du bist doch nicht etwa…«
Matthew blieb stehen. »Was tut es zur Sache, welchem College ich angehöre?« Er wandte den Blick ab. »Wobei ich natürlich verstehen würde, wenn du lieber unter Leuten wärst.«
»Ich habe keine Angst, dass du mich zum Abendessen auserkoren haben könntest, Matthew. Ich war nur noch nie hier.« Ein kunstvolles, verschnörkeltes Tor verwehrte den Eintritt in das College, als wäre es das Märchenland. Matthew brummte ungeduldig und packte meine Hand, als ich durch die Stäbe schielen wollte.
»Wir sind auch nur ein Haufen Wissenschaftler in einer Reihe von alten Gebäuden.« Seine schroffe Bemerkung änderte nichts an der Tatsache, dass er zu den ungefähr siebzig Auserwählten an diesem College gehörte, an dem es nicht einmal Studenten gab. »Außerdem gehen wir in mein Apartment.«
Auf den letzten Metern wirkte Matthew bei jedem Schritt in die Dunkelheit entspannter, so als würde er zu einem alten Freund zurückkehren. Es war so still und verschwiegen hier, als hätten sich in diesem College tatsächlich die »Seelen aller in der Universität Oxford dahingeschiedenen Gläubigen« versammelt.
Matthew sah mich schüchtern lächelnd an. »Willkommen im All Souls.«
Das All Souls College war ein spätgotisches Meisterwerk und ähnelte mit seinen luftigen Spitztürmen und dem fein ziselierten Mauerwerk dem unehelichen Balg eines gotischen Domes mit einer Hochzeitstorte. Ich seufzte genüsslich, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte – wenigstens noch nicht. Später würde Matthew eine Menge zu erklären haben.
»Guten Abend, James«, sagte er zu dem Pförtner, der ihn über die Bifokal-Brille hinweg ansah und mit einem Nicken begrüßte. An seinem Zeigefinger baumelte eine Lederschlaufe mit einem antik wirkenden Schlüssel. »Ich bleibe nur kurz.«
»In Ordnung, Professor Clairmont.«
Matthew nahm mich wieder bei der Hand. »Gehen wir. Dein Bildungsprogramm ist noch nicht abgeschlossen.«
Wie ein aufgeregter Lausbub auf Schatzsuche schleifte er mich weiter. Wir drückten uns durch eine rissige, vom Alter geschwärzte Tür, und Matthew schaltete das Licht an. Seine weiße Haut schien mich aus dem Dunkel regelrecht anzuspringen; so vampirhaft hatte er noch nie ausgesehen.
»Gut, dass ich eine Hexe bin«, neckte ich ihn. »Ein Mensch würde sich zu Tode erschrecken, wenn er dich so sehen würde.«
Am Fuß einer Treppe tippte Matthew eine endlos lange Ziffernfolge in ein Tastenfeld und drückte zuletzt die Sterntaste. Ich hörte ein leises Klicken, und er zog die nächste Tür auf. Der Geruch von Staub und Alter und etwas, das ich nicht benennen konnte, schlug mir entgegen. Hinter der Treppenbeleuchtung erstreckte sich tiefe Schwärze.
»Das ist ja wie im Horrorfilm. Wo bringst du mich hin?«
»Geduld, Diana. Wir sind gleich da.« Dummerweise war bei den Bishop-Frauen die Geduld eher schwach ausgeprägt.
Matthew fasste an meiner Schulter vorbei und drückte einen weiteren Schalter. Eine Folge altmodischer, wie Trapezkünstler an ihren Drähten hängender Glühbirnen warf matte Lichtkreise auf eine Reihe von Verschlägen, die aussahen wie Pferdeboxen für winzige Shetlandponys.
Ich sah Matthew an, und aus meinem Blick sprachen hundert Fragen.
»Nach dir«, sagte er mit einer Verbeugung.
Ich machte einen Schritt nach vorn und erkannte, wonach es hier roch. Es roch nach schalem Alkohol – wie in einem Pub am Sonntagmorgen. »Wein?«
»Wein.«
Wir gingen an Dutzenden von Verschlägen vorbei, in denen Weinregale, Weinkisten und aufgestapelte Weinflaschen zu sehen waren. An jeder Tür hing eine kleine Schiefertafel mit einer in Kreide notierten Jahreszahl. Ich sah Verschläge voller Wein aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, und ich sah Flaschen, die Florence Nightingale vor ihrer Reise auf die Krim in ihren Koffer gepackt haben könnte. Es gab Weine aus dem Jahr des Baus der Berliner Mauer, und welche
aus dem Jahr, in dem sie gefallen war. Weiter hinten im Keller standen keine Jahreszahlen mehr auf den Tafeln, sondern nur noch allgemeine Bezeichnungen wie »alter Bordeaux« oder »Jahrgangsportwein«.
Schließlich hatten wir das Ende des Kellers erreicht. Ein Dutzend verschlossener
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