Seelen der Nacht
hob sich wie von selbst.
»Sollen wir essen?«
Danach konnte ich mich kaum noch auf das Essen konzentrieren, trotzdem tat ich mein Bestes. Matthew wies mir einen Stuhl mit geflochtener Sitzfläche zu, von dem aus ich in den warmen, wunderschönen Raum blickte. Aus einem winzigen Kühlschrank holte er zwei Teller, jeder mit sechs Austern beladen, die sternförmig auf einem Bett aus zerstoßenem Eis arrangiert waren.
»Lektion eins deiner kulinarischen Fortbildung heißt: Austern und Champagner.« Matthew setzte sich und hob den Finger wie ein Lehrer, der ansetzt, sich über sein Lieblingsthema auszulassen. Er griff nach dem Champagner, der in Reichweite seines langen Armes wartete, und nahm ihn aus dem Kühler. Mit einer einzigen kurzen Drehung zog er den Korken aus dem Flaschenhals.
»Ich brauche meistens länger dazu«, kommentierte ich knapp, den Blick auf seine kräftigen, eleganten Finger gerichtet.
»Wenn du willst, kann ich dir beibringen, wie man den Korken mit
einem Schwert abschlägt.« Matthew grinste. »Natürlich geht das auch mit dem Messer, wenn gerade kein Schwert zur Hand ist.« Er schenkte etwas Champagner in unsere Gläser, wo die Flüssigkeit im Kerzenschein zu prickeln und zu tanzen begann.
Er erhob sein Glas. »À la tienne.«
»À la tienne.« Ich hob ebenfalls mein Glas und sah den Blasen zu, wie sie an der Oberfläche zerplatzten. »Warum sind die Bläschen so klein?«
»Weil der Wein so alt ist. Meist wird Champagner viel früher getrunken. Aber ich mag alten Wein – er erinnert mich daran, wie Champagner früher schmeckte.«
»Wie alt ist er?«
»Älter als du«, erwiderte Matthew. Er knackte die Austernschalen mit den bloßen Händen und warf die oberen Schalenhälften in eine Glasschüssel auf dem Tisch. Dann reichte er mir einen Teller. »Er stammt aus dem Jahr 1961.«
»Bitte sag mir, dass er das Älteste ist, was wir heute Abend trinken werden«, sagte ich und dachte an den Wein, den er am Donnerstag zum Essen mitgebracht hatte und dessen Flasche jetzt auf meinem Nachttisch stand, wo sie als Vase für die letzten weißen Rosen aus seinem Strauß diente.
»Bei Weitem nicht«, sagte er grinsend.
Ich kippte den Inhalt der ersten Auster in meinen Mund. Meine Augen flogen auf, als es in meinem Mund nach Atlantik zu schmecken begann.
»Und jetzt trink.« Er hob sein Glas und beobachtete, wie ich einen Schluck der goldenen Flüssigkeit nahm. »Was schmeckst du?«
Die cremige Sanftheit des Weines und der Austern kollidierten auf absolut bezaubernde Weise mit dem Meersalzgeschmack. »Es schmeckt, als hätte ich den ganzen Ozean im Mund«, antwortete ich und nahm noch einen Schluck.
Nach den Austern folgte ein riesiger Salat. Er enthielt alle nur erdenklichen teuren Salate, dazu Nüsse, Beeren und ein delikates Dressing aus Champagneressig und Olivenöl, das Matthew am Tisch
anrührte. Die hauchdünnen Fleischscheiben obenauf stammten von einer Wachtel aus dem Jagdgebiet um die Old Lodge. Dazu tranken wir meinen »Geburtstagswein«, wie Matthew ihn nannte, der nach Bodenpolitur und Rauch duftete und nach Kreide und Butterkaramell schmeckte.
Als nächsten Gang gab es einen Eintopf mit dicken Fleischstücken in einer duftenden Soße. Nach dem ersten Bissen war mir klar, dass es Kalb mit Äpfeln und Sahne war, das auf Reis serviert wurde. Matthew sah mir beim Essen zu und lächelte, als ich das erste Mal auf einen herben Apfel biss. »Ein altes Rezept aus der Normandie«, sagte er. »Schmeckt es dir?«
»Fantastisch. Hast du es selbst gemacht?«
»Nein«, bekannte er. »Der Koch aus dem Old Parsonage hat es für mich zubereitet – und mir genaue Anweisungen erteilt, wie ich es aufzuwärmen habe, damit es nicht anbrennt.«
»Mein Essen darfst du jederzeit aufwärmen.« Die Wärme des Gerichts breitete sich durch meinen Körper aus. »Aber du isst ja gar nichts.«
»Nein, aber ich bin auch nicht hungrig.« Er sah mir noch kurz beim Essen zu, dann verschwand er in die Küche, um den nächsten Wein zu holen. Es war die mit rotem Wachs versiegelte Flasche. Er schnitt das Wachs auf und zog den Korken aus der Flasche. »Perfekt«, verkündete er und goss die scharlachrote Flüssigkeit achtsam in eine Dekantierkaraffe.
»Kannst du ihn schon riechen?« Ich war immer noch unschlüssig, wie weit sein olfaktorischer Radius reichte.
»O ja. Vor allem diesen Wein.« Matthew schenkte mir einen Fingerbreit ein und ließ dann ein wenig davon in sein eigenes Glas plätschern. »Bist du
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