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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Harkness
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Buch mit der Aufschrift Wills Stycke . »Haben Freunde dir diese Bücher geschenkt?«
    »Die meisten.« Matthew sah nicht einmal auf.
    Damit würden wir später nicht nur die deutsche Druckereikunst, sondern auch die Frühzeit des englischen Dramas erörtern müssen.
    Größtenteils waren Matthews Bücher in fast jungfräulichem Zustand. Das überraschte mich angesichts ihres Besitzers eigentlich nicht. Einige allerdings sahen eindeutig zerlesen aus. Ein schlankes, hohes Buch im untersten Fach beispielsweise war an den Ecken so abgegriffen und abgewetzt, dass man die Holzbretter unter dem Leder erkennen konnte. Neugierig, wieso dieses Buch so eifrig benutzt worden war, zog ich es heraus und schlug es auf. Es war Vesalius’ Anatomiebuch aus dem Jahr 1543, in dem erstmals der sezierte menschliche Körper in allen Einzelheiten dargestellt worden war.
    Jetzt hatte mich das Jagdfieber gepackt, ich gierte nach tieferen Einblicken in Matthews Wesen und suchte nach dem nächsten Buch, das stark beansprucht aussah. Es war ein kleinerer, dickerer Band. Auf dem Vorderschnitt war mit Tinte der Titel De motu vermerkt. William Harveys Studie über den Blutkreislauf und die Funktionsweise des Herzens musste, als sie 1620 erstmals veröffentlicht wurde, für jeden Vampir eine interessante Lektüre abgegeben haben, obwohl diese Wesen bestimmt schon immer geahnt hatten, wie das Blut zirkuliert.
    Unter Matthews abgenutzteren Büchern fanden sich Werke über Elektrizität, Mikroskopie und Physiologie. Doch das zerlesenste Exemplar, das ich bis dahin entdeckt hatte, stand im Regal mit den Werken des neunzehnten Jahrhunderts: eine Erstausgabe von Darwins Vom Ursprung der Arten.
    Ich sah kurz aus dem Augenwinkel auf Matthew und zog das Buch verstohlen wie ein Ladendieb aus dem Fach. Der grüne Leineneinband mit dem golden eingeprägten Titel und Autorennamen war vom vielen
Lesen ausgefranst. Auf dem Vorsatzblatt hatte Matthew in gestochen scharfer Handschrift seinen Namen eingetragen.
    Dahinter lag ein zusammengefalteter Brief.
     
    »Verehrter Herr«, begann er. »Endlich erreichte mich Ihr Schreiben vom 15. Oktober. Ich fühle mich zutiefst beschämt, dass ich Ihnen erst jetzt antworte. Seit vielen Jahren habe ich alle Thatsachen gesammelt, derer ich in Bezug auf die Variationen und Ursprünge der Arten habhaft werden konnte, und Ihre Zustimmung zu meinen Überlegungen sind für mich durchaus erfreuliche Neuigkeiten, dieweil mein Werk bald in die Hände meines Verlegers übergehen wird.« Unterschrieben war der Brief mit »C. Darwin« und datiert mit dem Jahr 1859.
    Die beiden Männer hatten nur Wochen vor dem Erscheinen des Ursprungs im November 1859 korrespondiert.
    Die Buchseiten waren so ausgiebig mit Notizen in Bleistift und Tinte bedeckt, dass kaum ein Fleck weiß geblieben war. Drei Kapitel hatte der Vampir noch ausführlicher kommentiert als die übrigen. Es waren die Kapitel über den Instinkt, über Mischbildungen oder »Bastard-Bildungen«, wie sie damals genannt wurden, und über die wechselseitige Verwandtschaft organischer Körper.
    Genau wie Harveys Abhandlung über den Blutkreislauf war Darwins siebtes Kapitel, in dem er sich mit den Instinkten beschäftigte, damals mit Sicherheit eine fesselnde Lektüre für jeden Vampir gewesen. Matthew hatte sich so für Darwins Ideen begeistert, dass er einzelne Passagen unterstrichen und über und unter dem Text sowie zwischen den Zeilen Anmerkungen notiert hatte. »Daraus lässt sich schließen, dass zahme Instinkte erworben wurden und natürliche Instinkte verloren gingen, teils durch Anpassung, teils durch den Menschen, der durch Auswahl über mehrere Generationen hinweg besondere geistige Eigenschaften und Fähigkeiten angezüchtet und angehäuft hat, die uns in unserer Unwissenheit anfangs nur zufällig erschienen. « Unter Matthews hingekritzelten Bemerkungen fanden sich die Fragen, welche Instinkte wohl erworben worden waren und ob es in der Natur Zufälle geben konnte. »Kann es sein, dass wir als Instinkt bewahrt haben, was die Menschen
durch Zufall und Gewohnheit aufgaben?«, fragte er quer über den unteren Rand. Ich brauchte nicht zu fragen, wen er mit »wir« meinte. Er meinte alle magischen Geschöpfe  – nicht nur die Vampire, sondern auch Hexen und Dämonen.
    Im Kapitel über die Mischbildungen hatte sich Matthew offenbar vor allem für die Probleme der Artenkreuzung und Sterilität interessiert. »Erste Kreuzungen zwischen Formen, die sich so weit unterscheiden,

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