Seelen der Nacht
Dieser Vampir war es gewohnt, dass alle seine Befehle unverzüglich befolgt wurden. Dass jemand Forderungen stellte oder erst verhandeln wollte, kannte er nicht. Und im Moment wirkte er ganz und gar nicht so aufbrausend wie sonst. Eher ein wenig jämmerlich.
Ich lenkte Rakasa zu Dahr hin, griff hinüber und hob Matthews Hand an meinen Mund. Meine Lippen lagen warm auf dem kalten, festen Fleisch seiner Handfläche.
Seine Pupillen weiteten sich überrascht.
Ich ließ seine Hand los, trieb Rakasa mit einem Schnalzen an und ritt ihm voran in den Stall.
20
Z u meiner Erleichterung aß Ysabeau auch nicht mit uns zu Mittag. Danach wollte ich direkt in Matthews Arbeitszimmer und die Aurora Consurgens studieren, aber er überredete mich, zuerst ein Bad zu nehmen. Das würde, versprach er mir, den unvermeidlichen Muskelkater abschwächen. Auf halber Treppe musste ich stehenbleiben und einen Krampf aus meinem Bein massieren. Für meine morgendliche Begeisterung würde ich bezahlen müssen.
Das Bad war himmlisch – lang, heiß und entspannend. Danach zog ich eine lockere schwarze Hose, einen Pulli und ein Paar Socken an und tappte dann nach unten, wo ein Feuer im Kamin loderte. Ich streckte die Hände den Flammen entgegen und beobachtete, wie sie meine Haut orange und rot einfärbten. Wie war es wohl, über das Feuer gebieten zu können? Kaum hatte ich mir die Frage gestellt, begannen meine Finger zu kribbeln, bis ich sie sicherheitshalber in die Hosentaschen schob.
Matthew sah von seinem Schreibtisch auf. »Das Manuskript liegt neben deinem Computer.«
Der schwarze Einband zog mich magnetisch an. Ich setzte mich an den Tisch, nahm das Buch vorsichtig in die Hand und schlug es auf. Die Farben leuchteten noch intensiver als in meiner Erinnerung. Nachdem ich die Königin ein paar Minuten lang angestarrt hatte, schlug ich die erste Seite um.
»Incipit tractatus Aurora Consurgens intitulatus.« Die Worte waren mir vertraut: »Hier beginnt das Traktat über die aufsteigende Morgenröte«, und trotzdem überlief mich derselbe lustvolle Schauer wie jedes Mal, wenn ich ein Manuskript zum ersten Mal in Augenschein nahm. »Alles Gute kommt mit ihr zu mir. Sie ist bekannt als Weisheit des
Südens, die in den Straßen ruft und zu den Massen« , übersetzte ich den Text lautlos aus dem Lateinischen. Es war eine wunderschöne Arbeit, voller Paraphrasen aus der Heiligen Schrift und anderen Quellen.
»Hast du hier oben eine Bibel?« Es wäre klug, eine zur Hand zu haben, während ich mich durch das Manuskript arbeitete.
»Ja – aber ich weiß nicht genau, wo sie steht. Soll ich sie für dich suchen?« Matthew hatte sich schon halb aus dem Stuhl erhoben, doch sein Blick haftete immer noch am Computerbildschirm.
»Nein, ich werde sie schon finden.« Ich stand auf und strich mit dem Finger über die Front des nächsten Regalfaches. Anders als in der Bibliothek unten waren Matthews Bücher nicht nach Größe, sondern nach dem Erscheinungsdatum geordnet. Die im ersten Regal waren so alt, dass ich es kaum ertrug, mir vorzustellen, was sie enthalten mochten – die verlorengegangenen Werke des Aristoteles vielleicht? Alles war möglich.
Etwa die Hälfte der Bücher war mit dem Rücken zur Wand eingeordnet, um die zerbrechlichen Buchrücken zu schonen. Viele davon waren auf dem Vorderschnitt beschriftet, und hier und da war ein in dicker schwarzer Tinte notierter Titel oder Autorenname zu entziffern. Etwa ab der Hälfte des Raumes waren die Bücher mit dem Rücken zum Raum eingestellt, sodass die eingravierten Titel und Verfassernamen golden und silbern aus dem Regal leuchteten.
Ich schlenderte an den Handschriften mit ihren dicken, welligen Pergamentseiten vorbei, von denen einige am Schnitt mit griechischen Buchstaben beschriftet waren. Ich ging weiter, nach einem fetten, gedruckten Buch Ausschau haltend. Dann blieb mein Zeigefinger vor einem in braunes Leder gebundenen, üppig vergoldeten Band stehen.
»Matthew, bitte sag mir, dass die Biblia Sacra 1450 nicht das ist, was ich glaube.«
»Okay, sie ist nicht das, was du glaubst«, antwortete er geistesabwesend, während seine Finger weiter in übermenschlicher Geschwindigkeit über die Tasten flogen. Er achtete kaum darauf, was ich tat, und schon gar nicht darauf, was ich sagte.
Ich ließ die Gutenbergbibel im Fach stehen und ging weiter am Regal entlang, heimlich hoffend, dass dies nicht die einzige Bibel sein würde. Wieder blieb mein Finger stehen, diesmal vor einem
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