Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Harkness
Vom Netzwerk:
dass sie als eigene Art gelten können, sowie zwischen ihren Bastarden sind sehr oft, aber nicht immer unfruchtbar«, hatte Darwin geschrieben. Ein skizzierter Stammbaum füllte neben der unterstrichenen Passage den Seitenrand. Wo die Wurzeln hingehört hätten, war ein Fragezeichen zu sehen, weiter oben verzweigten sich vier Äste. »Warum führte Inzucht nicht zu Sterilität und Wahnsinn?« , rätselte Matthew quer über den Baumstamm. Oben an die Seite hatte er geschrieben: »1 Spezies oder 4?« und »comment sont faites les dēōs?«
    Ich fuhr die Zeile mit dem Finger nach. Das war meine Spezialität  – die Kürzel der Wissenschaftler in etwas zu verwandeln, das auch normale Menschen verstanden. In seiner letzten Notiz hatte Matthew eine gängige Technik eingesetzt, um seine Gedanken zu verbergen. Er hatte in einer Kombination von Französisch und Latein geschrieben  – und aus gutem Grund noch dazu eine Abkürzung verwendet, indem er alle Konsonanten bis auf den ersten und letzten durch Querstriche über den Vokalen ersetzt hatte. Auf diese Weise würde niemand, der das Buch durchblätterte, auf das Wort »démons« stoßen und innehalten.
    »Wie werden Dämonen gemacht?«, hatte sich Matthew 1859 gefragt. Anderthalb Jahrhunderte später suchte er immer noch nach der Antwort.
    Als Darwin die wechselseitige Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Arten zu erörtern begann, hatte Matthews Stift kein Halten mehr gekannt und die ganze Seite vollgeschrieben, bis der gedruckte Text kaum noch zu entziffern war. Über eine Passage mit dem Wortlaut: »Vom Anbeginn des Lebens an gleichen sich alle organischen Wesen in Abstufungen, sodass man sie in Gruppen und Untergruppen klassifizieren kann«, hatte Matthew in fetten Druckbuchstaben »URSPRUNG«
geschrieben. Ein paar Zeilen weiter unten hatte er eine weitere Passage gleich doppelt unterstrichen: Dass es verschiedene Gruppen gibt, wäre leicht erklärbar, wenn eine Gruppe ausschließlich für das Leben zu Lande und eine andere für das Leben im Wasser geeignet wäre; oder sich die einen von Fleisch, eine andere von Pflanzen ernährten und so weiter; aber es lässt sich nicht übersehen, dass oft Angehörige sogar derselben Untergruppe verschiedene Lebensgewohnheiten haben.«
    Glaubte Matthew vielleicht, dass die Ernährung der Vampire nur eine spezielle Lebensweise darstellte und kein unumstößliches Merkmal der Spezies war? Beim Weiterlesen stieß ich auf den nächsten Hinweis: »Insgesamt scheinen mir die verschiedenen … Tatsachen, die in diesem Kapitel abgehandelt wurden, ganz offen zu verkünden, dass die unzähligen Arten, Gattungen und Familien organischer Wesen, mit denen diese Welt bevölkert ist, allesamt, wenn auch in verschiedenen Klassen oder Gruppen, von gemeinsamen Eltern abstammen und sich im Laufe der Fortpflanzung verändert haben.« Am Rand hatte Matthew »GEMEINSAME ELTERN« und »ce qui explique tout« vermerkt.
    Der Vampir glaubte also, dass die Monogenese alles erklärte  – oder hatte das zumindest 1859 geglaubt. Matthew hielt es für möglich, dass Dämonen, Menschen, Vampire und Hexen von gemeinsamen Vorfahren abstammten. Unsere beträchtlichen Unterschiede ließen sich auf Abstammungslinien, Lebensgewohnheiten und Selektion zurückführen. In seinem Labor war er mir ausgewichen, als ich gefragt hatte, ob wir eine Spezies seien oder vier, doch hier in seiner Bibliothek konnte er das nicht.
    Matthew starrte weiter in seinen Computer. Ich schloss die Aurora Consurgens , um die Seiten zu schützen, gab meine Suche nach einer gewöhnlichen Bibel auf und ging mit seiner Ausgabe des Darwin-Buches zum Kamin, wo ich mich auf dem Sofa zusammenrollte. Dort schlug ich es auf, um aus den Notizen, die Matthew in diesem Buch vorgenommen hatte, mehr über ihn zu erfahren.
    Er war mir immer noch ein Rätsel  – ganz besonders hier in Sept-Tours. Der französische Matthew war anders als der englische. So hatte er sich dort nie in seine Arbeit vertieft. Hier hatte er die Schultern
nicht angestrengt durchgestreckt, sondern saß entspannt da, und er hatte beim Tippen seine Unterlippe über den leicht hervorstehenden, scharfen Eckzahn gezogen. Matthew spürte meinen Blick gar nicht, seine Finger flogen über die Tastatur und hackten dabei erstaunlich kräftig auf den Computer ein. So empfindlich, wie Notebooks gebaut waren, hatte er bestimmt einen ganz schönen Verschleiß. Er kam am Ende eines Satzes an, lehnte sich zurück und räkelte sich.

Weitere Kostenlose Bücher