Seelen der Nacht
hatte es damals keine mittelalterlichen Ritterorden mehr gegeben. Ich durchforstete mein Gedächtnis nach wichtigen Ereignissen, die möglicherweise Licht in die Sache bringen konnten. Königin Elizabeth die Erste hatte in jenem Jahr den Earl von Essex köpfen lassen, und der dänische Astronom Tycho Brahe war unter weit weniger aufsehenerregenden Umständen gestorben. Beide Ereignisse schienen nicht das Geringste mit diesem Siegel zu tun zu haben.
Meine Finger strichen leicht über die Einprägung. Plötzlich ging mir auf, was MDCI zu bedeuten hatte.
Matthew de Clermont.
Es waren Buchstaben, keine römischen Ziffern. Und es war die Abkürzung von Matthews Namen: MDCL. Ich hatte das kleine L als I gelesen.
Die fünf Zentimeter große Scheibe lag in meiner Hand, und meine Finger schlossen sich fest darum, bis sich die eingravierte Oberfläche in meine Haut prägte.
Die kleinere Scheibe war bestimmt Matthews Privatsiegel gewesen. Solche Siegel verliehen so viel Macht, dass sie gewöhnlich vernichtet wurden, sobald jemand gestorben war oder sein Amt niedergelegt hatte, damit niemand Schindluder damit treiben konnte.
Und nur ein einziger Ritter hätte sowohl das Große Siegel wie auch ein persönliches Siegel in seinem Besitz: der Ordensmeister.
Warum Matthew die Siegel versteckt hatte, war mir rätselhaft. Wer interessierte sich noch für die Ritter des Lazarus oder wusste überhaupt noch von ihnen oder gar, welche Rolle Matthew einst in diesem Orden gespielt hatte? Dann landete mein Blick wieder auf dem schwarzen Wachs auf dem Großen Siegel.
»Das ist doch nicht möglich«, flüsterte ich. Ritter in glänzender Rüstung gab es schon lange nicht mehr. Sie waren nicht mehr aktiv.
Die Matthew-große Rüstung funkelte im Kerzenschein.
Klappernd fiel die Metallscheibe in ihr Bett zurück. Das Fleisch meiner Handfläche hatte sich in alle Vertiefungen geschmiegt und trug jetzt den spiegelverkehrten Abdruck bis hin zu den geschweiften Kreuzarmen, dem Sichelmond mit Stern und der Lilie.
Dass Matthew die Siegel aufbewahrte und dass an einem davon frisches Wachs klebte, konnte nur bedeuten, dass sie immer noch in Gebrauch waren. Es gab die Lazarusritter bis heute.
»Diana? Ist alles in Ordnung?«, hörte ich Ysabeaus Stimme vom Fuß der Treppe.
»Ja, Ysabeau!«, rief ich, den Blick wie gebannt auf den Abdruck in meiner Hand gerichtet. »Ich lese gerade meine E-Mails und habe eine unerwartete Nachricht bekommen, das ist alles!«
»Soll Marthe das Tablett herunterholen?«
»Nein!«, blökte ich. »Ich esse noch!«
Ihre Schritte verhallten in Richtung Salon. Als alles wieder still war, atmete ich erleichtert aus.
So schnell und leise wie möglich löste ich das dritte Siegel aus seiner samtigen Nische und drehte es um. Es war fast identisch mit Matthews Siegel, nur dass im oberen rechten Quadranten der Sichelmond ohne Stern eingeprägt war und am Rand »Philippus « stand.
Dieses Siegel hatte Matthews Vater gehört, woraus ich schloss, dass die de Clermonts die Lazarusritter wie einen Familienbetrieb führten.
Mit Sicherheit würde ich im Schreibtisch keine weiteren Hinweise auf diesen Orden finden. Ich drehte die Siegel wieder um, sodass das Lazarusgrab wieder nach oben zeigte. Die Schublade klickte gedämpft, als sie in ihr unsichtbares Versteck unter dem Schreibtisch zurückglitt.
Ich nahm den Tisch, auf dem Matthew gern seinen Nachmittagswein abstellte, und trug ihn ans Regal. Es würde ihn nicht stören, wenn ich mich in seiner Bibliothek umsah – das redete ich mir wenigstens ein, bevor ich die Slipper von den Füßen streifte. Der Tisch knarrte warnend, als ich auf seine Platte kletterte und mich hinstellte, aber das Holz trug mich.
Jetzt war ich auf Augenhöhe mit dem Spielzeug am Ende des Regals. Ich holte tief Luft und zog das erste Buch am anderen Ende heraus. Es war uralt – das älteste Manuskript, das ich je in den Händen gehabt hatte. Der Ledereinband beschwerte sich, als ich es öffnete, und aus den Seiten stieg der Geruch von altem Schafsleder auf.
»Carmina qui quondam studio florente peregi, / Flebilis heu maestos cogor inire modos «, lauteten die ersten Zeilen. In meinen Augen brannten Tränen. Es war ein Werk aus dem sechsten Jahrhundert, Der Trost der Philosophie, das Boëthius verfasst hatte, als er im Gefängnis seinem Tod entgegensah. »Ich, der begeistert und frisch einst fröhliche Weisen geschaffen, muss nun, kummergebeugt, singen ein trauriges Lied! « Ich sah Matthew
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