Seelen der Nacht
dieses Dokument besiegelt.
Stunden später stand ich wieder im mittelalterlichen Bereich von Matthews Bibliothek und öffnete das letzte Kontenbuch. Dieser Band überspannte den Zeitraum vom späten dreizehnten Jahrhundert bis in die erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. Inzwischen hatte ich mich an die atemberaubenden Summen gewöhnt, doch um 1310 waren sie noch wesentlich höher. Außerdem waren einige Namen mit einer
neuen Kennzeichnung versehen: einem winzigen roten Kreuz. Im Jahr 1313 erkannte ich einen der so markierten Namen wieder: Jacques de Molay war der letzte Großmeister des Templerordens gewesen.
1314 war er als Häretiker auf dem Scheiterhaufen gelandet. Ein Jahr vor seiner Hinrichtung hatte er seinen gesamten Besitz dem Orden der Lazarusritter überschrieben.
Hunderte von Namen waren mit dem gleichen roten Kreuz markiert. Waren das alles Tempelritter? Falls ja, dann war das Mysterium ihres Ordens gelöst. Die Ritter samt ihrem Geld hatten sich nicht in Luft aufgelöst. Sie waren im Lazarusorden aufgegangen.
Das konnte unmöglich wahr sein. So etwas hätte exzellent geplant und koordiniert werden müssen. Und niemand hätte ein derart unglaubliches Vorhaben geheim halten können. Die Vorstellung war kaum plausibler als die Geschichten über… Hexen und Vampire.
Die Lazarusritter waren nicht mehr oder weniger glaubhaft als ich selbst, ging mir auf.
Fast alle Verschwörungstheorien kranken daran, dass sie zu komplex sind. Kein Leben war lang genug, um alle nötigen Informationen zu sammeln, die Verbindungen zwischen allen beteiligten Elementen aufzubauen und den Plan dann durchzuführen. Es sei denn, die Verschwörer waren Vampire. Für einen Vampir – oder noch besser eine ganze Vampirfamilie – spielte Zeit praktisch keine Rolle.
Als ich das Buch an seinen Platz zurückstellte, wurde mir schlagartig bewusst, wie anmaßend es war, einen Vampir zu lieben. Nicht nur sein Alter und seine Essgewohnheiten oder die Tatsache, dass er getötet hatte und wieder töten würde, standen uns im Weg. Sondern die Geheimnisse, die er wahrte.
Weit über tausend Jahre lang hatte Matthew Geheimnisse angesammelt – einige große wie das der Lazarusritter und zahllose kleine wie das seiner Bekanntschaft mit William Harvey und Charles Darwin. Mein Leben wäre wohl zu kurz, um sie alle zu erfahren oder gar zu verstehen.
Andererseits waren die Vampire nicht die Einzigen, die Geheimnisse wahrten. Alle nichtmenschlichen Geschöpfe hatten Geheimnisse,
aus Angst entdeckt zu werden und weil wir in clangeprägten, beinahe stammesähnlichen Kulturen lebten. Matthew war nicht nur ein Jäger, Mörder, Wissenschaftler oder Vampir, er war auch ein Netz von Geheimnissen, genau wie ich. Wenn wir es miteinander aushalten wollten, mussten wir uns genau überlegen, welche Geheimnisse wir miteinander teilen wollten, und alle anderen beerdigen.
Der Computer läutete melodisch durch die Stille, als ich ihn abschaltete. Marthes Sandwiches waren ausgetrocknet und der Tee kalt geworden, doch ich zwang mir etwas von beidem herunter, damit sie nicht glaubte, sie hätte sich umsonst bemüht.
Als ich fertig war, lehnte ich mich zurück und starrte ins Feuer. Die Lazarusritter hatten meine professionelle Neugier angestachelt, und mein Hexeninstinkt sagte mir, dass ich mehr über sie erfahren musste, wenn ich Matthew verstehen wollte. Trotzdem waren sie nicht sein wichtigstes Geheimnis. Ihn zu lieben würde eine komplizierte Angelegenheit werden und viel Fingerspitzengefühl erfordern. Wir waren Märchenmaterial – Vampire, Hexen, Ritter in glänzender Rüstung. Trotzdem mussten wir uns einer besorgniserregenden Realität stellen. Man hatte mich bedroht, und in der Bodleian hatten mich die verschiedensten Geschöpfe beschattet, in der Hoffnung, dass ich noch einmal ein Buch aus dem Archiv abrufen würde, das jeder haben wollte und niemand verstand. In Matthews Labor war eingebrochen worden. Und unsere Beziehung destabilisierte den brüchigen Waffenstillstand, der seit Langem zwischen Dämonen, Menschen, Vampiren und Hexen bestand. Plötzlich fand ich mich in einer neuen Welt wieder, in der sich Geschöpfe gegen Geschöpfe stellten und eine verschwiegene Geheimarmee in den Kampf gerufen werden konnte, indem man ein Bronzesiegel in schwarzes Wachs drückte. Eigentlich war es kein Wunder, dass Matthew mich aus der Schusslinie nehmen wollte.
Ich blies die Kerzen aus und stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Erschöpft
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