Seelen der Nacht
damit aufbrechen. Allerdings war der Tisch so alt, dass die Historikerin in mir schon bei dem Gedanken aufschrie – und zwar viel lauter als mein Gewissen. Vielleicht konnte ich damit leben, dass ich in Matthews Privatsphäre eindrang und gegen meine moralischen Grundsätze verstieß, aber eine Antiquität würde ich auf keinen Fall beschädigen.
Leider war es unter dem Schreibtisch zu dunkel, um die Unterseite der Schublade zu erkennen. Aber dann ertasteten meine Finger etwas Kaltes, Hartes, das tief ins Holz eingelassen war. Links von der kaum spürbaren Fuge zwischen Schreibtisch und Schublade spürte ich, etwa eine Vampir-Armlänge von der Schreibtischfront entfernt, eine metallische Wölbung. Sie war rund und fest und in der Mitte kreuzförmig eingekerbt – damit sie aussah wie eine alte Schraube oder ein alter Nagelkopf.
Als ich sie drückte, klickte etwas über meinem Kopf. Ich stand wieder auf und starrte in eine etwa zehn Zentimeter tiefe Schublade. Sie war mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und drei Vertiefungen waren in das dicke Kissen eingelassen. In jeder ruhte eine Bronzemünze oder Medaille.
Die größte lag in einer Vertiefung von fast zehn Zentimetern Durchmesser. Die Prägung war erstaunlich detailliert und zeigte vier Stufen,
die zu einer von zwei Säulen flankierten Tür hinaufführten. Dazwischen stand eine Gestalt im Umhang. Die klaren Umrisse des Gebäudes waren teilweise mit schwarzen Wachsflecken bedeckt. Am Münzenrand waren die Worte »militie Lazari a Bethania « zu lesen .
Die Ritter des Lazarus von Bethanien.
Ich hielt mich am Rand der Schublade ein, um nicht umzufallen, und sackte auf den Stuhl zurück.
Die Metallscheiben waren keine Münzen oder Medaillen. Es waren Siegel – dazu gedacht, offizielle Dokumente zu bezeugen oder einen Eigentumswechsel zu beglaubigen. Ein Wachsabdruck davon auf einem gewöhnlichen Papier hatte früher eine ganze Armee in Marsch setzen oder riesige Ländereien übertragen können.
Den Wachsresten nach zu urteilen war zumindest ein Siegel erst vor kurzem verwendet worden.
Mit zittrigen Fingern zog ich das nächste Siegel aus seinem Bett. Auf seiner Oberfläche war dasselbe Gebäude zu sehen. Die Säulen und die verhüllte Gestalt des Lazarus – jenes Mannes aus Bethanien, der vier Tage in seinem Grab gelegen hatte, bevor Christus ihn von den Toten wiedererweckte – waren unverkennbar. Hier sah man Lazarus aus einem flachen Sarg steigen. Doch dieses Siegel war nicht beschriftet. Stattdessen umringte eine Schlange, die den Schwanz im Maul trug, das Gebäude.
Ich sah im Geist die Standarte der de Clermonts mit dem silbernen Uroboros auf dem Turm von Sept-Tours flattern und schloss hastig die Augen, um das Bild zu vertreiben.
Glänzend lag das Bronzesiegel in meiner Hand. Ich konzentrierte mich auf das polierte Metall und beschwor meine neu gefundene visionäre Kraft herauf, um Licht in dieses Geheimnis zu bringen. Doch nachdem ich die Magie in meinem Blut zwei Jahrzehnte lang ignoriert hatte, fühlte sie sich nicht bemüßigt, mir jetzt zu Hilfe zu eilen.
Ohne visionäre Unterstützung würde ich wohl oder übel meine Fähigkeiten als Historikerin einsetzen müssen. Ich untersuchte eingehend die Rückseite des Siegels und vermerkte dabei jedes Detail. Ein Kreuz mit breiter werdenden Enden, ähnlich jenem, das Matthew in
meiner Vision getragen hatte, teilte das Siegel. Im oberen rechten Viertel war eine liegende Mondsichel zu sehen, in deren Bauch ein sechszackiger Stern ruhte. Unten links war die Lilie, das traditionelle Symbol Frankreichs, abgebildet.
Am Siegelrand war das Datum MDCI eingeprägt – 1601 in römischen Ziffern –, gefolgt von den Worten »secretum Lazari «.
Es war bestimmt kein Zufall, dass Lazarus wie ein Vampir vom Leben zum Tod und wieder zurück gereist war. Vor allem aber deutete das Kreuz in Kombination mit der legendären Gestalt aus dem Heiligen Land und der Tatsache, dass Ritter erwähnt wurden, darauf hin, dass die Siegel in Matthews Schreibtischschublade einem der Kreuzritterorden gehörten, die im Mittelalter gegründet worden waren. Am bekanntesten waren die Tempelritter, die Anfang des vierzehnten Jahrhunderts auf mysteriöse Weise verschwunden waren, nachdem man ihnen Häresie und Schlimmeres vorgeworfen hatte. Von irgendwelchen Rittern des Lazarus hatte ich allerdings noch nie gehört.
Ich drehte das Siegel im Licht hin und her und konzentrierte mich auf die Jahreszahl 1601. Eigentlich
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