Seelen der Nacht
dem Geld. Ich richtete meine Suche neu aus.
Die klobigen Umrisse des ersten Rechnungsbuches ragten aus dem dritten Fach, eingeklemmt zwischen Alhazens Buch vom Sehen und einem romantischen Chanson de geste aus Frankreich. Auf dem Vorderschnitt des Manuskripts stand in Tinte ein kleiner griechischer Buchstabe: α. Weil ich davon ausging, dass es eine Art Kennzeichnung war, suchte ich das Regal ab, bis ich auf das zweite Kontenbuch stieß. Es war mit einem kleinen griechischen ß beschriftet. Mein Blick stieß
auf γ, δ und ε, die ebenfalls vereinzelt im Regal einsortiert waren. Bei einer genaueren Suche würde ich mit Sicherheit auch die Übrigen finden.
Als ich die Hand nach oben ausstreckte, fühlte ich mich wie Eliot Ness, der Al Capone eine Faust voll Quittungen unter die Nase hält. Ich wollte keine Zeit verschwenden, indem ich wieder auf den Tisch stieg, um es herunterzuholen. Wie von selbst rutschte das erste Kontenbuch aus seinem Versteck und fiel in meine wartende Hand.
Die Einträge stammten aus dem Jahr 1117 und waren von verschiedenen Händen vorgenommen worden. Namen und Zahlen tanzten über die Seiten. Meine Finger huschten geschäftig darüber und sammelten so viele Informationen, wie sie nur aus der Schrift ziehen konnten. Immer wieder tauchten Gesichter aus dem Pergament auf – ich sah Matthew, außerdem den dunklen Mannes mit der Adlernase, einen Mann mit hellem, leuchtend kupferrotem Haar und einen weiteren mit warmen braunen Augen und ernster Miene.
Mein Finger kam auf einem Eintrag aus dem Jahr 1149 über erhaltene Gelder zur Ruhe. Eleanor Regina, 40 000 Silbermark . Es war eine schwindelerregende Summe – etwa der halbe Jahresetat des gesamten englischen Königreiches. Warum spendete die englische Königin einem von Vampiren geführten Ritterorden so viel Geld? Dummerweise war das Mittelalter nicht mein Fachgebiet. Energisch klappte ich das Kontenbuch zu und ging weiter zu den Regalen mit den Büchern aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert.
Zwischen zahllosen Titeln stand unscheinbar ein mit dem griechischen Lambda markierter Band. Als ich ihn aufschlug, gingen mir die Augen über.
Diesem Kontenbuch zufolge hatten die Lazarusritter – was ich kaum glauben konnte – für die unterschiedlichsten Kriege, Güter, Dienste und diplomatischen Winkelzüge gezahlt. So hatten sie Mary Tudors Mitgift gestellt, als diese den spanischen König Philipp heiratete, sie hatten die Kanonen für die Schlacht von Lepanto bezahlt, die Franzosen bestochen, damit sie dem Konzil von Trient beiwohnten, und die meisten militärischen Aktionen des Schmalkaldischen Bundes finanziert.
Offenbar ließ sich die Bruderschaft nicht von Politik oder Religion leiten, wenn Geld investiert werden sollte. So hatten sie im selben Jahr für die Rückkehr Maria Stuarts auf den schottischen Thron gezahlt und die gigantischen Schulden beglichen, die ihre Gegnerin Elizabeth I. an der Börse von Antwerpen angehäuft hatte.
Ich spazierte die Regalen entlang und hielt nach weiteren Büchern mit griechischen Buchstaben Ausschau. Im Regal mit den Titeln aus dem neunzehnten Jahrhundert entdeckte ich eines mit dem gegabelten Psi auf dem verblichenen blauen Leinenrücken. Auf den vielen Seiten waren gewissenhaft die Ein- und Ausgänge gigantischer Summen aufgezeichnet, außerdem stieß ich auf Grundstückskäufe, bei denen mir schwindlig wurde – wie konnte jemand klammheimlich fast alle Fabriken in Manchester aufkaufen? –, und Namen aus dem Königshaus sowie von Aristokraten, Präsidenten und Generälen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Es fanden sich aber auch kleinere Summen für Schulgebühren, Kleidung und Bücher, dazu Mitgiftzahlungen, Krankenhausrechnungen und überfällige Mietzahlungen. Neben vielen mir unbekannten Namen standen die Abkürzungen MLB oder FMLB.
Mein Latein war nicht so gut, wie es hätte sein sollen, aber ich war sicher, dass die Abkürzungen für die Ritter des Lazarus von Bethanien standen – militie Lazari a Bethania – beziehungsweise für filia militie beziehungsweise filius militie, also die Töchter und Söhne der Ordensritter. Und wenn der Orden noch im neunzehnten Jahrhundert Stipendien verteilt hatte, dann tat er das höchstwahrscheinlich bis heute. Irgendwo in dieser Welt war ein Dokument – ein Immobilienabschluss oder eine rechtliche Vereinbarung – im Umlauf, auf dem in dickem schwarzem Wachs das Großsiegel des Ordens prangte.
Und Matthew hatte
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