Seelen der Nacht
Matthew.
Die Hexe packte mich, gerade als ich den Erdboden riechen konnte. »Du bist zu leicht zu tragen für eine, die nicht fliegen kann. Warum kannst du es trotzdem nicht?«
Ich ging im Geist sämtliche englischen Könige und Königinnen durch, um nichts Verfängliches zu denken.
Sie seufzte. »Ich bin nicht deine Feindin, Diana. Wir sind beide Hexen.«
Der Wind wechselte, als die Hexe von Sept-Tours weg in Richtung Südwest abdrehte. Schon bald hatte ich die Orientierung verloren. Der Lichtersee in der Ferne war möglicherweise Lyon, aber wir hielten nicht darauf zu. Stattdessen drangen wir immer tiefer in die Berge vor – die ganz und gar nicht wie die Gipfel aussahen, die Matthew mir benannt hatte.
Schließlich hielten wir im Sinkflug auf eine Art Krater zu, der durch gähnend tiefe Schluchten und dichte, urwüchsige Wälder von der Umgebung abgeschnitten war. Es stellte sich heraus, dass es die Ruine einer mittelalterlichen Burg mit hohen Mauern und dicken, tief in der Erde verankerten Fundamenten war. Bäume wuchsen in den ausgehöhlten, längst verlassenen Gebäuden, die sich in den Schatten des Gemäuers kauerten. An der ganzen Burg gab es keine einzige elegante Linie, keinen einzigen Lichtblick. Sie erfüllte nur einen einzigen Zweck – alle fernzuhalten, die hier eindringen wollten. Die holprigen Waldwege quer durchs Gebirge bildeten die einzige Verbindung zwischen der Burg und dem Rest der Welt. Mir rutschte das Herz in die Hose.
Die Hexe schwenkte die Beine nach unten und bog die Zehen abwärts, und als ich es ihr nicht nachtat, zwang sie meine Füße mit einem weiteren Fingerschnippen in die gleiche Position. Die Knöchel beschwerten sich über den unsichtbaren Druck. Wir glitten an den Überresten der grauen Ziegeldächer entlang, ohne sie zu berühren, und sanken auf einen kleinen Innenhof zu. Plötzlich stellten sich meine Füße waagerecht und knallten so hart auf das Steinpflaster, dass der Aufprall bis in den Rücken zu spüren war.
»Mit der Zeit wirst du lernen, sanfter zu landen«, stellte die Hexe ungerührt fest.
Mir wollte nicht in den Kopf, wie schnell sich meine Situation verändert hatte. Gerade noch, so kam es mir vor, hatte ich verträumt und zufrieden mit Matthew im Bett gelegen. Jetzt stand ich mit einer unbekannten Hexe in einer finsteren Burg.
Dann lösten sich zwei bleiche Gestalten aus dem Schatten, und meine Verwirrung steigerte sich zu blankem Entsetzen. Eine davon war Domenico Michele. Sein Begleiter war mir unbekannt, aber an der eisigen Berührung seines Blickes erkannte ich, dass auch er ein Vampir war. Eine Weihrauch- und Schwefelschwade verriet mir: Dies war Gerbert von Aurillac, der Vampir-Papst.
Rein körperlich wirkte Gerbert wenig einschüchternd, aber in ihm glühte eine Bosheit, die mich instinktiv zurückweichen ließ. Spuren dieser Düsternis fanden sich auch in den leuchtenden braunen Augen, die in tiefen Höhlen über so kantig hervorstehenden Wangenknochen saßen, dass die Haut darüber bis zum Zerreißen gespannt schien. Die Nase war leicht gebogen und zeigte auf dünne Lippen, die zu einem grausamen Lächeln verzogen waren. Unter dem bohrenden Blick dieser finsteren Augen verblasste die Bedrohung, die Peter Knox dargestellt hatte.
»Danke, dass du mir diesen Ort überlassen hast, Gerbert«, sagte die Hexe schmeichlerisch, ohne von meiner Seite zu weichen. »Du hast recht – hier wird mich niemand stören.«
»Es war mir ein Vergnügen, Satu. Darf ich einen Blick auf deine Hexe werfen?«, fragte Gerbert leise und ging dabei abwechselnd nach links und rechts, als suche er nach dem besten Blickwinkel, um eine Trophäe in Augenschein zu nehmen. »Nachdem sie mit de Clermont zusammen war, ist schwer abzuschätzen, wo ihr Geruch beginnt und seiner endet.«
Sobald Matthews Name fiel, zog die Hexe die Brauen zusammen. »Diana Bishop ist jetzt in meiner Obhut. Deine Anwesenheit wird hier nicht mehr gebraucht.«
Ohne mich auch nur einmal aus den Augen zu lassen, kam Gerbert mit kleinen, abgemessenen Schritten auf uns zu, die ihn nur noch gefährlicher wirken ließen. »Ein wirklich eigenartiges Buch, nicht wahr,
Diana? Vor tausend Jahren habe ich es einem großen Hexer in Toledo abgenommen. Als ich es nach Frankreich brachte, lag bereits ein mehrfacher Zauber darauf.«
»Und obwohl du dich mit Magie beschäftigt hast, konntest du seine Geheimnisse nicht enthüllen.« Ich hörte die Herablassung, mit der die Hexe antwortete. »Das Manuskript
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