Seelen der Nacht
haben eine Hexe daraus verschleppt. Das ist schlimmer als das, was sie Philippe antaten. In den Augen der Hexen war er nur ein Vampir. Als sie Diana geraubt haben, sind sie zu weit gegangen.«
Zunehmend nervös beobachtete Matthew, wie Baldwin über seine Worte nachsann.
»Diana.« Ysabeau lenkte Baldwins Gedanken auf das eigentliche Thema zurück.
Baldwin nickte knapp.
»Danke«, sagte Matthew nur. »Eine Hexe muss sie entführt haben. Als wir es merkten, waren alle Hinweise, in welche Richtung sie verschwunden sein könnten, längst verweht.« Er zog eine zerknitterte Landkarte aus der Tasche. »Hier müssen wir überall noch suchen.«
Baldwins Blick ging über die Gebiete, die Ysabeau und sein Bruder bereits abgesucht hatten, und über die weiten Flächen, die noch blieben. »Den ganzen Bereich habt ihr abgesucht, seit sie entführt wurde?«
Matthew nickte. »Natürlich.«
Baldwin machte keinen Hehl aus seinem Ärger. »Matthew, wann lernst du endlich nachzudenken, bevor du etwas unternimmst? Zeig mir den Garten.«
Matthew und Baldwin gingen nach draußen, während Marthe und Ysabeau im Haus blieben, damit ihr Duft keine noch so schwache Fährte überlagern konnte. Als die beiden Männer weg waren, begann Ysabeau von Kopf bis Fuß zu zittern.
»Das ist zu viel, Marthe. Wenn sie ihr etwas angetan haben …«
»Wir beide haben immer gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde.« Marthe legte mitfühlend die Hand auf die Schulter ihrer Herrin und verschwand dann in die Küche, während Ysabeau nachdenklich am erkalteten Kamin sitzen blieb.
Im Garten richtete Baldwin seinen übermenschlich scharfen Blick auf den Boden und den angebissenen Apfel, der neben einem Büschel Weinraute lag. Ysabeau war so klug gewesen, darauf zu bestehen, dass der Apfel dort liegen blieb. Dank seiner Lage konnte Baldwin erkennen, was seinem Bruder entgangen war. Die Rautenstängel waren leicht gebogen und zeigten auf ein weiteres Büschel von Kräutern und von dort aus auf ein drittes.
»Woher wehte der Wind?« Baldwins Fantasie war bereits erwacht.
»Aus Westen«, erwiderte Matthew und versuchte gleichzeitig zu erkennen, worauf Baldwin hinauswollte. Er gab frustriert seufzend auf. »Das braucht zu viel Zeit. Wir sollten uns aufteilen. Auf diese Weise können wir einen größeren Bereich absuchen. Ich nehme mir noch einmal die Höhlen vor.«
»In den Höhlen ist sie bestimmt nicht.« Baldwin richtete sich aus der Hocke auf und wischte sich den Kräutergeruch von den Händen. »Vampire verstecken sich in Höhlen, Hexen nicht. Außerdem sind sie nach Süden geflogen.«
»Nach Süden? Da ist doch nichts.«
»Jetzt nicht mehr«, bestätigte Baldwin. »Trotzdem muss es dort irgendetwas gegeben haben, sonst wäre die Hexe nicht dorthin geflogen. Wir fragen Ysabeau.«
Die Familie der de Clermonts hatte unter anderem deshalb so lange überlebt, weil jedes ihrer Mitglieder in einer Krise auf die Fähigkeiten der anderen zurückgreifen konnte. Philippe war immer ein Anführer gewesen, eine charismatische Gestalt, die Vampire und Menschen und
bisweilen sogar Dämonen überzeugen konnte, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Ihr Bruder Hugh hatte sich durch sein Verhandlungsgeschick ausgezeichnet und alle kriegführenden Parteien an einem Tisch versammeln können, um selbst die tiefsten Konflikte zu schlichten. Godfrey, der jüngste von Philippes vier Söhnen, war ihr Gewissen gewesen und hatte bei jeder Entscheidung die ethischen Konsequenzen aufgezeigt. Baldwin war die Kriegführung zugefallen, mit seinem scharfen Verstand hatte er die Fehler und Schwächen in jedem Plan bloßgelegt. Louisa hatten sie je nach Situation als Köder oder Spionin eingesetzt.
Matthew war, auch wenn das unglaublich erschien, der unerschrockenste Kämpfer in der Familie gewesen. Anfangs hatten seine disziplinlosen Abenteuer mit dem Schwert ihren Vater zum Wahnsinn getrieben, doch mittlerweile wurde etwas in Matthew kalt, sobald er eine Waffe in die Hand nahm, und seither kämpfte er sich mit einer Zähigkeit, die ihn unverletzlich machte, durch jedes Hindernis.
Blieb noch Ysabeau. Jeder unterschätzte sie, bis auf Philippe, der sie entweder als »Generalin« oder »meine Geheimwaffe« bezeichnet hatte. Ihr entging nichts, und ihr Gedächtnis war unfehlbarer als das der Mnemosyne. Die Brüder kehrten ins Haus zurück. Baldwin rief nach Ysabeau und marschierte in die Küche, wo er eine Handvoll Mehl aus einer Schüssel griff und es über Marthes
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