Seelen der Nacht
gefasst.
»Wie geht es Marcus?«
»Er und Miriam sind auf dem Weg nach New York. Sie haben etwas mit dir zu besprechen«, verkündete Matthew mit einer Miene wie eine Gewitterwolke.
»Mit mir? Was denn?«
»Das wollte er mir nicht sagen.«
»Bestimmt wollte Marcus dich bloß nicht allein unter lauter Hexen lassen.« Ich lächelte ihn an, und sein Gesicht entspannte sich ein wenig.
»Gegen Abend sind sie hier und nehmen sich dann ein Zimmer in der Pension im Ort, an der wir auf der Herfahrt vorbeigekommen sind. Ich werde sie heute Abend dort besuchen. Was sie dir auch zu sagen haben, kann bis morgen warten.« Matthews besorgter Blick zuckte zu Sarah und Em hinüber.
Ich beugte mich wieder über die Spüle. »Ruf ihn noch mal an, Matthew. Sie sollen direkt hierherkommen.«
»Sie möchten niemandem zur Last fallen«, sagte er fast beiläufig. Matthew wollte Sarah und die anderen Bishops nicht in noch größeren Aufruhr versetzen, indem er weitere Vampire ins Haus schleppte. Aber meine Mutter und mein Vater hätten Marcus nach einer so weiten Anreise auf keinen Fall im Hotel wohnen lassen.
Marcus war Matthews Sohn. Und damit auch mein Sohn.
Meine Finger prickelten, und die Tasse, die ich gerade abspülen wollte, rutschte mir aus der Hand. Sie schaukelte kurz auf dem Wasser und versank.
»Mein Sohn wird keinesfalls in einem Hotel schlafen. Er gehört ins Haus der Bishops zu seiner Familie, und Miriam sollte nicht allein bleiben müssen. Beide werden hier schlafen, und damit Schluss«, verkündete ich fest.
»Sohn?«, fragte Sarah mit schwacher Stimme.
»Marcus ist Matthews Sohn und damit auch mein Sohn. Dadurch ist er ein Bishop, und dieses Haus gehört ihm genauso wie dir oder mir oder Em.« Ich drehte mich zu ihnen um und packte mit nassen, zittrigen Händen die Ärmel meines Hemdes.
Meine Großmutter kam durch den Flur angeschwebt, um nachzusehen, was jetzt schon wieder los war.
»Hast du mich gehört, Grandma?«, rief ich ihr zu.
Ich glaube, wir haben dich alle gehört, Diana, antwortete sie mit kratziger Stimme.
»Gut. Also kein Theater. Und das gilt für alle in diesem Haus – Lebende wie Tote.«
Das Haus öffnete in einer verfrühten Willkommensgeste Vorder-und Hintertür und schickte eine frische Windbö durchs Erdgeschoss.
»Und wo sollen sie schlafen?«, murrte Sarah.
»Sie schlafen nicht, Sarah. Es sind Vampire.« Meine Finger prickelten immer stärker.
»Diana«, warnte Matthew, »bitte geh von der Spüle weg. Die Elektrizität, mon cœur. «
Ich packte meine Ärmel noch fester. Meine Finger leuchteten knallblau.
»Wir haben verstanden«, versicherte Sarah hastig, den Blick auf meine Hände gerichtet. »Wir haben schließlich schon einen Vampir im Haus.«
»Ich mache ihre Zimmer fertig.« Emilys Lächeln wirkte aufrichtig. »Ich freue mich schon, deinen Sohn kennenzulernen, Matthew.«
Matthew, der an einem alten Geschirrschrank gelehnt hatte, richtete sich auf und kam langsam auf mich zu. »Schon gut«, sagte er, zog mich vom Spülbecken weg und drückte meinen Kopf unter sein Kinn. »Du hast deinen Standpunkt klargemacht. Ich rufe Marcus an und richte ihm aus, dass sie hier willkommen sind.«
»Sag ihm aber nicht, dass ich ihn meinen Sohn genannt habe. Vielleicht möchte er gar keine Stiefmutter.«
»Das werdet ihr beide untereinander klären müssen«, sagte Matthew und versuchte ein Lächeln zu unterdrücken.
»Was ist daran so lustig?« Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf.
»Heute Morgen ist so viel passiert, doch du zerbrichst dir den Kopf darüber, ob Marcus eine Stiefmutter bekommen möchte. Du verblüffst mich immer wieder.« Matthew schüttelte den Kopf. »Sind alle Hexen so außergewöhnlich, Sarah, oder nur die Bishops?«
Sarah dachte nach, bevor sie antwortete. »Nur die Bishops.«
Ich sah an Matthews Schulter vorbei und lächelte sie dankbar an.
Meine Tanten standen inmitten einer Schar von Geistern, die alle tief ernst nickten.
35
N achdem der Abwasch erledigt war, gingen Matthew und ich mit dem Brief meiner Mutter, der mysteriösen Nachricht und der Seite aus Ashmole 782 ins Esszimmer. Dort breiteten wir die Papiere auf dem riesigen, abgewetzten Esstisch aus. Inzwischen wurde der Tisch kaum noch benutzt, denn es war nicht besonders praktisch, zu zweit an den Enden einer Tafel für zwölf Personen zu sitzen. Meine Tanten folgten uns, jeweils einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand.
Sarah und Matthew beugten sich über die Seite aus der
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