Seelen der Nacht
und schnappte nach Luft.
»Das hat gestern angefangen.« Matthew folgte meinem Blick. »Sarah meint, du hättest das Leben aus ihm herausgezogen.«
Über mir wölbte sich rissiges, verwittertes Geäst. Die nackten Zweige teilten sich wie ein riesiges Hirschgeweih. Braunes Laub wirbelte um meine Füße auf. Matthew hatte überlebt, weil ich die Lebenskraft des Baumes durch meine Adern in seinen Körper umgeleitet hatte. Die raue Borke der Eiche hatte so unverwüstlich gewirkt, doch jetzt war sie wie ausgehöhlt.
»Macht fordert immer einen Preis«, erklärte Matthew, »ganz gleich, ob es sich dabei um magische Macht handelt oder weltliche.«
»Was habe ich getan?« Mit dem Tod eines Baumes war meine Schuld bei der Göttin bestimmt nicht beglichen. Zum ersten Mal fürchtete ich mich vor dem Handel, den ich abgeschlossen hatte.
Matthew überquerte die Lichtung und schloss mich in seine Arme. Wir hielten uns gegenseitig mit aller Kraft fest, denn uns war beiden bewusst, dass wir einander um ein Haar verloren hätten.
»Du hattest versprochen, dass du nicht mehr so unvorsichtig sein würdest.« Er klang wütend.
Ich war genauso wütend auf ihn. »Und du solltest angeblich nicht umzubringen sein.«
Er ließ die Stirn gegen meine sinken. »Ich hätte dir von Juliette erzählen sollen.«
»Allerdings, das hättest du. Ihretwegen hätte ich dich um ein Haar verloren.« Mein Puls pochte unter dem Verband um meinen Hals. Matthews Daumen kam auf dem Punkt zu liegen, wo er Fleisch und Muskel durchgebissen hatte, und ich empfand die Berührung als überraschend warm.
»Das war entschieden zu knapp.« Seine Finger schlangen sich in mein Haar, und seine Lippen drückten sich auf meine. Dann blieben wir, Herz an Herz gepresst, in der Stille stehen.
»Indem ich Juliette tötete, machte ich sie zu einem Teil von mir – für alle Zeit.«
Matthew strich mir über den Kopf. »Der Tod ist eine ganz eigene, mächtige Art von Magie.«
Wieder beruhigt schickte ich ein stilles Gebet an die Göttin, in dem ich ihr nicht nur für Matthews Leben, sondern auch für mein eigenes dankte.
Wir gingen zum Range Rover zurück, doch auf halbem Weg kam ich vor Erschöpfung ins Straucheln. Matthew nahm mich huckepack und trug mich den Rest der Strecke.
Als wir vor dem Haus anhielten, sahen wir durchs Fenster Sarah gebeugt an ihrem Schreibtisch sitzen. Im nächsten Moment kam sie
aus der Tür geflogen und zog so rasch die Autotür auf, dass ein Vampir sie um ihr Tempo beneiden konnte.
»Verflucht noch mal, Matthew«, sagte sie nach einem Blick auf mein fahles Gesicht.
Gemeinsam schafften sie mich ins Haus und dort wieder auf die Couch im Familienzimmer, wo ich meinen Kopf in Matthews Schoß bettete. Die leisen Arbeitsgeräusche um mich herum lullten mich ein, und das Letzte, was ich bewusst wahrnahm, waren der Duft von Vanille und das Surren von Ems uraltem Mixer.
Matthew weckte mich zum Mittagessen, zu dem es Gemüsesuppe gab. Sein Blick sagte deutlich, dass ich etwas Nahrhaftes brauchte. Er wollte unsere Familie in unseren Plan einweihen.
»Bereit, mon cœur ?«, fragte Matthew. Ich nickte und nahm den letzten Löffel. Marcus sah neugierig zu uns her. »Wir haben euch etwas mitzuteilen«, begann er.
Die neue Familientradition bestimmte, dass wir in einer Prozession ins Esszimmer zogen, sobald es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Nachdem wir uns dort versammelt hatten, richteten sich alle Blicke auf Matthew.
»Was hast du beschlossen?«, wollte Marcus ohne jede Vorrede wissen.
Matthew holte tief Luft und begann: »Wir müssen irgendwohin, wo uns die Kongregation nicht so leicht in die Finger bekommt, wo Diana ausreichend Zeit bekommt und wo es Lehrer gibt, die ihr dabei helfen können, ihre Magie zu meistern.«
Sarah verkniff sich ein Lachen. »Und wo soll dieser Ort sein, an dem es mächtige und geduldige Hexen gibt, denen es nichts ausmacht, wenn ein Vampir bei ihnen herumhängt?«
»Ich habe da weniger an einen bestimmten Ort gedacht«, antwortete Matthew kryptisch. »Denn wir werden Diana in der Zeit verstecken.«
Sofort redeten alle wild durcheinander. Matthew nahm meine Hand.
»Courage«, murmelte ich auf Französisch und wiederholte damit
den Rat, den er mir gegeben hatte, als ich Ysabeau erstmals gegenübergetreten war.
Er schnaubte und bedankte sich mit einem grimmigen Lächeln.
Ich konnte ihnen nachfühlen, dass sie fassungslos und ungläubig reagierten. Ich hatte gestern Abend im Bett ganz ähnlich reagiert.
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