Seelen der Nacht
»Während der Epidemie 1819.«
»New Orleans kommt nicht in Frage«, erklärte Matthew scharf.
»Wahrscheinlich nicht.« Marcus sah mich kurz an und konzentrierte sich dann wieder auf seinen Vater. »Wie wäre es mit Paris? Einer von Fannys Ohrsteckern hängt auch dran.«
Matthews Finger betasteten einen winzigen roten Stein in einer filigranen Goldfassung. »Philippe und ich haben dich damals gemeinsam mit Fanny aus Paris weggeschickt. Man nannte diese Jahre nicht umsonst die Schreckensherrschaft. Das ist kein Platz für Diana.«
»Ihr beide habt euch damals meinetwegen aufgeregt wie zwei alte Weiber. Dabei hatte ich da schon eine Revolution überstanden. Außerdem werdet ihr euch verdammt schwertun, wenn ihr in der Vergangenheit nach einem sicheren Fleckchen sucht«, grummelte Marcus. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Philadelphia?«
»Ich war weder in Philadelphia noch in Kalifornien mit dir«, sagte Matthew hastig, bevor sein Sohn weiterreden konnte. »Es wäre besser, wenn wir an einen Ort und eine Zeit zurückkehren würden, die ich kenne.«
»Selbst wenn du weißt, wohin wir gehen sollen, Matthew, bin ich mir nicht sicher, dass ich uns dorthin bringen kann.« Wieder einmal rächte sich meine Entscheidung, die Magie aus meinem Leben zu verbannen.
»Ich glaube sehr wohl, dass du das kannst«, belehrte Sarah mich, »schließlich bist du schon dein ganzes Leben in der Zeit herumgesprungen. Als Baby oder als Kind beim Versteckspielen mit Stephen. Kannst du dich noch erinnern, wie oft wir dich aus dem Wald ziehen und dich erst mal saubermachen mussten, bevor wir dich in die Schule schicken konnten? Was glaubst du, hast du damals getan?«
»Ganz bestimmt bin ich nicht zeitgewandert«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Mir will das mit dem Zeitwandern bis heute nicht einleuchten. Wohin verschwindet dieser Körper, wenn ich woandershin gehe?«
»Wer weiß das schon? Aber mach dir deswegen keine Gedanken. Das kennt jeder. Der ganze Nachmittag ist verflogen, ohne dass du einen Schimmer hättest, was du die ganze Zeit getan hast. Immer wenn so was passiert, kann man sicher sein, dass ein Zeitwanderer in der Nähe ist«, erläuterte Sarah. Dass wir durch die Zeit wandern würden, nahm sie erstaunlich gelassen auf.
Matthew spürte, wie nervös ich war, und nahm meine Hand. »Einstein sagte: Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige. Er glaubte nicht nur an Wunder und Fantastisches, sondern auch daran, dass die Zeit elastisch ist.«
Jemand klopfte zaghaft an die Tür.
»Ich habe keinen Wagen gehört«, sagte Miriam argwöhnisch und stand auf.
»Das ist nur Sammy, der das Zeitungsgeld kassieren kommt.« Em rutschte von ihrem Stuhl.
Wir warteten schweigend, während sie durch den Flur ging und die Dielen unter ihren Füßen protestierten. Matthew und Marcus waren bereit, sofort zur Tür zu springen, das zeigten die flach auf die Tischplatte gepressten Hände.
Kalte Luft wehte ins Esszimmer.
»Ja?«, fragte Em verdutzt. Sofort waren Marcus und Matthew aufgestanden und bei ihr, gefolgt von Tabitha, die ihren Rudelführer in dieser wichtigen Angelegenheit unbedingt unterstützen wollte.
»Nicht der Zeitungsjunge«, stellte Sarah überflüssigerweise fest und sah auf den leeren Platz neben mir.
»Sind Sie Diana Bishop?«, fragte eine tiefe Männerstimme in einem vertrauten ausländischen Akzent, der mit einem leichten Singsang unterlegt war.
»Nein, ich bin ihre Tante«, erwiderte Em.
»Können wir etwas für Sie tun?« Matthew klang zwar höflich, aber ausgesprochen kühl.
»Ich bin Nathaniel Wilson, und das ist meine Frau Sophie. Man hat uns gesagt, dass wir Diana Bishop hier finden würden.« Seine Stimme erinnerte mich an die Dämonin aus dem Blackwell’s, die australische Modedesignerin mit den sanften braunen Augen.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«, fragte Matthew leise.
»Das war seine Mutter – Agatha.« Ich stand auf und ging zur Tür. Miriam wollte mir den Weg verstellen, ließ mich aber vorbei, als sie meine Miene sah. Marcus war nicht so leicht zu überzeugen. Er packte mich am Arm und zog mich in den Schatten der Treppe.
Nathaniels Blick drückte sanft auf mein Gesicht. Er war Anfang zwanzig, hatte die Haare und die schokoladenbraunen Augen seiner Mutter und dazu ihren breiten Mund und die gleichen feinen Züge. Doch während Agatha kompakt und drahtig gewirkt hatte, war er fast so groß wie Matthew und hatte die
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