Seelen der Nacht
Plastikwanne oben auf dem Papierkorb und warf die leere Sandwichtüte in den Müll. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, dass sich Agatha in die Sportseiten der Londoner Tageszeitung vertieft hatte, die der Historiker liegen gelassen hatte.
Auf dem Weg nach draußen sah ich Miriam nicht, aber ich spürte ihren Blick.
Während ich weg gewesen war, hatte sich das Selden End mit gewöhnlichen Menschen gefüllt, die alle mit ihrer Arbeit beschäftigt waren und nichts von den Geschöpfen ahnten, die sich um sie herum versammelt hatten. Ich beneidete sie um ihre Ignoranz. Entschlossen, mich zu konzentrieren, griff ich nach dem nächsten Manuskript, aber gleich darauf merkte ich, dass ich im Geist meine Unterhaltung bei Blackwell’s und die Ereignisse der letzten Tage durchging. Auf den ersten Blick hatten die Illustrationen in Ashmole 782 nichts mit dem zu tun, worum es laut Agatha Wilson in dem Manuskript ging. Und warum forderten Matthew Clairmont oder die Dämonin das Manuskript nicht einfach an, wenn es sie so interessierte?
Ich schloss die Augen, rief mir die Minuten in Erinnerung, die ich mit dem Manuskript verbracht hatte, und versuchte anschließend, in den Ereignissen der letzten Tage ein Muster zu erkennen, indem ich erst meinen Geist leerte und mir dann das Problem als Puzzle auf einem weißen Tisch vorstellte, auf dem ich die Einzelteile immer wieder neu arrangierte. Aber wie ich sie auch zusammenfügte, es wollte sich kein sinnvolles Bild ergeben. Frustriert schob ich den Stuhl zurück und machte mich auf den Weg zum Ausgang.
»Irgendwelche Anfragen ans Magazin?«, fragte Sean, als er mir die Manuskripte abnahm. Ich überreichte ihm einen Stapel frisch ausgefüllter Ausleihzettel. Er lächelte, als er sah, wie dick der Stapel war, sagte aber kein Wort.
Bevor ich ging, musste ich noch zwei Dinge erledigen. Das erste gebot die Höflichkeit. Ich wusste nicht, wie die Vampire das angestellt hatten, aber sie hatten mich davor bewahrt, von einem endlosen Strom verschiedener Geschöpfe im Selden End aufgesogen zu werden. Hexen
und Vampire hatten nicht oft Gelegenheit, einander zu danken, aber Clairmont hatte mich in zwei Tagen zweimal beschützt. Ich wollte auf gar keinen Fall undankbar wirken oder so bigott wie Sarah und ihre Freundinnen vom Hexenkonvent von Madison.
»Professor Clairmont?«
Der Vampir sah auf.
»Vielen Dank«, sagte ich nur und sah ihm dabei in die Augen, bis er den Blick abwandte.
»Keine Ursache«, murmelte er, und ich hörte ihm die Überraschung an.
Die zweite Sache war kalkuliert. Ich wusste zwar nicht, warum, doch offenbar brauchte Matthew Clairmont mich. Aber ich brauchte ihn auch. Er sollte mir verraten, warum Ashmole 782 so viel Aufmerksamkeit erregte.
»Nennen Sie mich doch Diana«, sagte ich schnell, bevor mich der Mut verlassen konnte.
Matthew Clairmont lächelte.
Mein Herz hörte für einen Sekundenbruchteil zu schlagen auf. Das war nicht das leise, höfliche Lächeln, an das ich mich inzwischen gewöhnt hatte. Diesmal hoben sich die Lippen tatsächlich, und sein ganzes Gesicht schien zu leuchten. O Gott, er ist so unbeschreiblich schön, dachte ich, wieder einmal leicht benommen.
»Gern«, sagte er leise, »aber dann musst du mich Matthew nennen.«
Ich nickte stumm, während mein Herz jetzt Purzelbäume schlug. Etwas breitete sich durch meinen ganzen Körper aus und löste die Angst, die sich nach der unerwarteten Begegnung mit Agatha Wilson in mir festgefressen hatte.
Matthews Nasenflügel bebten leicht. Sein Lächeln wurde breiter. Was immer in meinem Körper gerade passiert war, er hatte es gerochen. Schlimmer noch, er schien zu wissen, was sich in mir abspielte.
Ich wurde rot.
»Noch einen schönen Abend, Diana.« Er sprach meinen Namen beinahe genießerisch aus und ließ ihn exotisch und fremdartig klingen.
»Guten Abend, Matthew.« Hastig trat ich den Rückzug an.
Als ich an jenem Abend in der Dämmerung auf dem stillen Fluss ruderte, sah ich hin und wieder einen grauen, verschwommenen Fleck über den Uferweg huschen, immer ein kleines Stück voraus, fast wie ein dunkler Stern, der mich nach Hause lotste.
7
U m zwei Uhr fünfzehn schreckte ich mit dem grässlichen Gefühl zu ertrinken aus dem Schlaf auf. Wild um mich schlagend wühlte ich mich unter der Decke hervor, die sich unter der Kraft meines Traumes in schweren, nassen Tang verwandelt hatte, und kämpfte mich dem helleren Wasser über mir entgegen. Gerade als ich meinte, es geschafft zu
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