Seelen der Nacht
mir.
Die fette Schlagzeile sprang mir sofort ins Auge: VAMPIRMORDE IN LONDON. Eilig überflog ich den Artikel.
In dem ungeklärten Mordfall an zwei Männern in Westminster gibt es laut Aussagen der Polizei keine neuen Spuren. Daniel Bennet, 22, und Jason Enright, 26, wurden am frühen Sonntagmorgen in einer Gasse hinter dem White Hart Pub an der St Alban’s Street vom Gastwirt Reg Scott tot aufgefunden. Bei beiden Männern waren die Schlagadern durchtrennt worden, außerdem fanden sich zahlreiche Wunden an Hals, Armen und Rumpf. Die Obduktion ergab, dass bei beiden Opfern ein massiver Blutverlust zum Tod geführt hatte, allerdings fanden sich am Tatort keinerlei Blutspuren.
Die im Fall der sogenannten »Vampirmorde« ermittelnden Stellen haben sich mittlerweile an Peter Knox gewandt. Der Autor mehrerer Bestseller über modernen Okkultismus, darunter Dunkle Fragen: Der Teufel in der Jetztzeit und Magie auf dem Vormarsch: Das Bedürfnis nach Mythen in der modernen Welt , wurde schon
von Polizeibehörden aus der ganzen Welt um Hilfe gebeten, wenn bei einem Fall ein satanistischer Hintergrund oder ein Serienmord vermutet wurde.
»Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich hierbei um Ritualmorde handelt«, erklärte Knox auf einer Pressekonferenz. Und auch einen Serientäter schloss er aus, obgleich es Parallelen zu dem Mord an Christiana Nilsson in Kopenhagen im letzten Sommer und jenem an Sergei Morossow in St. Petersburg im Herbst 2007 gebe. Auf eine entsprechende Nachfrage hin gestand Knox allerdings zu, dass es sich bei den Morden in London um das Werk eines oder mehrerer Nachahmungstäter handeln könnte.
Während die Anwohner vorübergehend Patrouillen aufgestellt haben, sucht die Polizei die Nachbarn in ihren Wohnungen auf, um sie zu befragen und sie in dieser schwierigen Zeit mit Rat und Tat zu unterstützen. Die Behörden ermahnen die Londoner, vor allem nachts verstärkt auf ihre Sicherheit zu achten.
»Das ist nur das Machwerk eines Reporters auf der Suche nach einer zündenden Story«, sagte ich und reichte der Dämonin die Zeitung zurück. »Die Presse lebt von den Ängsten ihrer Leser.«
»Wirklich?« Sie blickte sich kurz um. »Ich bin da nicht so sicher. Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Bei Vampiren kann man nie wissen. Sie stehen nur eine Stufe über den Tieren.« Agatha Wilsons Mund verzog sich zu einem verdrossenen Strich. »Und ihr glaubt, wir seien labil … Wie dem auch sei, es ist für uns alle gefährlich, wenn wir die Aufmerksamkeit der Menschen auf uns ziehen.«
Dieses Gerede von Hexen und Vampiren war kein Thema für einen öffentlichen Ort. Allerdings hatte der Student immer noch den Kopfhörer auf, und alle anderen Gäste waren in ihre eigenen Gedanken versunken oder steckten vertraulich die Köpfe mit ihren Begleitern zusammen.
»Ich weiß nichts über das Manuskript oder darüber, was die Hexen damit angestellt haben, Ms Wilson. Und ich habe es auch nicht«, ergänzte ich hastig, falls auch sie glaubte, ich hätte es gestohlen.
»Bitte nennen Sie mich Agatha.« Sie richtete den Blick konzentriert auf das Muster des Teppichbodens. »Dann hat es die Bibliothek wieder. Haben sie Ihnen befohlen, es zurückzugeben?«
Meinte sie die Hexen? Vampire? Die Bibliothekare? Ich entschied mich für die wahrscheinlichsten Übeltäter.
»Die Hexen?«
Agatha nickte und sah sich nervös um.
»Nein. Ich habe es einfach ins Magazin zurückbringen lassen, als ich damit fertig war.«
»Ach ja, ins Magazin«, wiederholte Agatha wissend. »Alle meinen, die Bibliothek sei nur ein Gebäude, dabei ist sie viel mehr.«
Wieder musste ich an das beklemmende Gefühl denken, das mich beschlichen hatte, sobald Sean das Manuskript aufs Förderband gelegt hatte.
»Die Bibliothek ist immer genau das, was sie nach Meinung der Hexen sein soll«, fuhr sie fort. »Aber dieses Buch gehört euch nicht. Hexen sollten nicht darüber entscheiden dürfen, wo es aufbewahrt wird und wer es zu sehen bekommt.«
»Was ist so besonders an diesem Manuskript?«
»Das Buch erklärt, warum wir hier sind.« In ihrer bebenden Stimme lag ein Anflug von Verzweiflung. »Es erzählt unsere Geschichte – den Anfang, den Hauptteil und sogar das Ende. Wir Dämonen müssen endlich erfahren, wo wir in dieser Welt stehen. Und wir brauchen dieses Wissen dringender als die Hexen oder Vampire.« Plötzlich wirkte sie ganz und gar nicht mehr konfus. Sie glich einer Kamera, die chronisch unscharf gestellt war, bis jemand kam und am
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