Seelen der Nacht
Seine Miene war sehr weich. Um uns herum geriet alles in Bewegung, aber in diesem Moment galten für mich keine sozialen Normen. Ich blieb, wo ich war, und sah dem Vampir in die Augen. Matthew wartete reglos ab und beobachtete, wie ich ihn beobachtete. Als ich mich aufsetzte, floss das Blut so abrupt in meinem Körper zurück, dass sich alles um mich herum zu drehen begann.
Endlich kam der Raum wieder zur Ruhe. Amira schloss die Übung mit einem Meditationsgesang und läutete mit ein paar winzigen Silberglöckchen, die an ihren Fingern hingen. Die Stunde war zu Ende.
Leises Gemurmel erfüllte den Raum, als Vampire Vampire und Hexen Hexen begrüßten. Die Dämonen waren umtriebiger, vereinbarten mitternächtliche Treffen in den diversen Clubs rund um Oxford oder erkundigten sich, wo der beste Jazz gespielt wurde. Sie folgten dem Strom der Energie, erkannte ich lächelnd und musste daran denken, wie Agatha beschrieben hatte, was eine Dämonenseele bewegte. Zwei Investmentbanker aus London – beide Vampire – unterhielten sich über eine ungelöste Mordserie in der Stadt. Ich musste an die Toten in Westminster denken und merkte, wie ich nervös wurde. Als Matthew ihnen einen finsteren Blick zuwarf, begannen sie stattdessen auszumachen, wo sie sich morgen zum Mittagessen treffen würden.
Jeder, der ging, musste an uns vorbei. Die Hexen nickten uns neugierig zu. Selbst die Dämonen sahen uns kurz in die Augen, grinsten und tauschten vielsagende Blicke. Die Vampire ignorierten mich betont, doch jeder Einzelne von ihnen grüßte Clairmont.
Schließlich waren nur noch Amira, Matthew und ich im Raum. Sie rollte ihre Matte zusammen und kam barfuß auf uns zu. »Du machst dich gut, Diana«, sagte sie.
»Danke, Amira. Diese Stunde werde ich bestimmt nie vergessen.«
»Du kannst jederzeit wiederkommen. Mit oder ohne Matthew.« Sie tippte ihm leicht auf die Schulter. »Du hättest sie warnen sollen.«
»Ich hatte Angst, dass Diana dann nicht kommen würde. Und ich war überzeugt, dass es ihr gefallen würde, wenn sie es ausprobiert.« Er sah mich unsicher an.
»Macht die Lichter aus, wenn ihr geht, in Ordnung?«, rief uns Amira über die Schulter zu und verschwand.
Mein Blick wanderte durch dieses makellose Juwel eines Rittersaales. »Jedenfalls war es eine Überraschung«, sagte ich trocken, weil ich ihn noch nicht vom Haken lassen wollte.
Im nächsten Moment stand er lautlos hinter mir. »Hoffentlich eine angenehme. Hat dir die Stunde gefallen?«
Ich nickte bedächtig und drehte mich um, um ihm zu antworten. Er war beunruhigend nahe, und er war so viel größer als ich, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, wenn ich ihm nicht auf die Brust starren wollte. »Und wie.«
Auf Matthews Gesicht leuchtete jenes Lächeln auf, das mein Herz jedes Mal ins Stolpern brachte. »Da bin ich aber froh.« Nur mit Mühe konnte ich mich dem Sog seiner Augen entziehen. Um den Bann zu brechen, bückte ich mich und begann, meine Matte einzurollen. Matthew schaltete das Licht aus und klemmte seine Matte unter den Arm. Im Vorraum, wo das Feuer zu einem Gluthaufen niedergebrannt war, schlüpften wir in unsere Schuhe.
Er nahm seine Schlüssel. »Kann ich dich zu einer Tasse Tee überreden, bevor wir nach Oxford zurückfahren?«
»Wo?«
»Wir gehen ins Torhaus«, erklärte Matthew beiläufig.
»Es gibt dort ein Café?«
»Nein, aber eine Küche. Einen Tisch zum Hinsetzen auch. Und Tee kann ich immerhin kochen«, neckte er mich.
»Matthew«, sagte ich schockiert, »ist das etwa dein Haus?«
Inzwischen standen wir in der Tür und überblickten den Innenhof. Mein Blick fiel auf den Scheitelstein über dem Tor: 1536.
»Ich habe es gebaut«, erklärte er und beobachtete mich genau dabei.
Matthew Clairmont war mindestens fünfhundert Jahre alt.
»Ein Beutegut der Reformation«, fuhr er fort. »Heinrich überließ
mir das Land unter der Bedingung, dass ich die Abtei schleife, die hier stand, und stattdessen etwas Neues baue. Ich rettete, so viel ich konnte, aber allzu viel durfte ich mir nicht erlauben. Der König war in jenem Jahr grauenhaft schlecht gelaunt. Hier und da finden sich noch ein paar Engel und etwas Mauerwerk, das ich beim besten Willen nicht zerstören konnte. Abgesehen davon ist es ein kompletter Neubau.«
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand ein Haus, das Anfang des sechzehnten Jahrhunderts errichtet wurde, als ›Neubau‹ bezeichnet.« Ich versuchte das Haus nicht nur durch Matthews Augen zu sehen,
Weitere Kostenlose Bücher