Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
passiert ist?«
»Der Unfall?«
Sie wusste haargenau, was er meinte, wollte sich nur eine kleine Bedenkzeit verschaffen. Vielleicht war es für sie schon so normal, ihm nicht die Wahrheit zu sagen, dass ihr eine Lüge ganz automatisch über die Lippen kam.
»Du weißt genau, was ich meine. Der Unfall, der zwei Jungen das Leben gekostet hat. Einar Allen und Tobbi, ich weiß seinen Nachnamen nicht mehr.«
»Tobbi hieß Jónasson«, sagte sie so leise, dass Óðinn den Hörer fest an sein Ohr drücken musste, um sie zu verstehen.
»Du erinnerst dich also daran?«
»Ja, kommt das in den Bericht?«
»Unter anderem, aber das ist nicht mehr meine Entscheidung.« Er hätte sie gerne mit Fragen gelöchert, wusste aber, dass sie dann den Hörer aufknallen würde. »Hat Róberta mit dir gesprochen?«
»Nein.«
Sie log. Hätte Róberta keinen Kontakt zu ihr aufgenommen, hätte Aldís bestimmt gefragt, wer das sei.
»Verstehe.«
»Nein, du verstehst gar nichts.«
Und damit war das Gespräch beendet.
»Warte mal! Wir bekommen gleich Besuch, und das ist der perfekte Ort, um Gäste zu empfangen«, sagte Diljá. Sie erinnerte Óðinn an seine alte Katze, wenn sie ihm einen Vogel oder eine Maus nach Hause gebracht hatte. »Aber vorher musst du noch Kaffee kochen und Tassen holen. Wir müssen professionell rüberkommen, wenn das was bringen soll.«
»Was meinst du?«, fragte Óðinn, der den kleinen Besprechungsraum gerade verlassen wollte. Er hatte Aldís noch dreimal vergeblich angerufen und schließlich aufgegeben.
»Eyjalín will uns treffen, und ich habe sie gebeten, hier vorbeizukommen. Sie scheint wirklich etwas auf dem Herzen zu haben, sie wollte sofort kommen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dabei sein soll, Diljá. Es ist etwas passiert, wodurch sich meine Position verändert hat. Ich rechne damit, dass ich das Projekt abgeben muss.«
»Abgeben? Wieso abgeben?« Diljá bohrte ihren langen, grünlackierten Fingernagel in seine Brust. »Was soll der Quatsch? Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«
»Tja, wahrscheinlich schon.« Er erzählte ihr, was bei seinem Gespräch mit Lilja herausgekommen war. »Es wäre falsch, wenn ich noch weiter an dem Projekt arbeite. Bitte glaub mir, ich habe das wirklich erst jetzt erfahren.«
»O Mann, nun jammere mal nicht so«, entgegnete sie eingeschnappt. »Seit wann spielen familiäre Verbindungen in Island eine Rolle? Spinnst du? Hier ist doch jeder mit jedem verwandt. Ich rede nicht alleine mit dieser Frau, ich weiß viel zu wenig über das Projekt, also steig mal von deinem hohen Ross herunter zu uns anderen in den moralischen Sumpf.«
Sie winkte ab und fügte hinzu:
»Hol die Tassen. Ich kümmere mich um den Kaffee.«
Nach kurzer Zeit meldete die Kollegin vom Empfang, dass der Besuch da sei. Óðinn und Diljá erhoben sich und reichten Eyjalín die Hand, nachdem sie ihre Lederhandschuhe abgestreift hatte. Óðinn kam ihre Hand ungewöhnlich warm und dünn und zierlich vor. Er konnte ihre Knochen fühlen und durfte nicht zu fest zudrücken, damit er ihr nichts brach.
»Guten Tag.«
Es handelte sich um die Frau auf dem Foto in Róbertas Schlafzimmer, das Diljá entdeckt hatte. Óðinn war wohl nicht der Einzige, der Verbindungen zu Personen aus dem Bericht hatte.
Die Frau musste Mitte fünfzig sein, wie seine Schwiegermutter, wirkte aber zehn Jahre jünger. Óðinn wusste nicht, ob es an ihrem schicken Outfit lag: dem Mantel mit dem echt aussehenden Pelzkragen, der dunkelbraunen Hose und dem hellen Pullover mit dem Zopfmuster, der bestimmt einiges gekostet hatte. Um den Hals trug sie zwei Goldketten, die nicht mit Diljás Klimperzeug zu vergleichen waren. In ihrem schulterlangen, dunklen Haar war kein einziges graues Haar, es sah genauso dick aus wie bei wesentlich jüngeren Frauen. Vielleicht war es ja eine Perücke. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den großen Augen und den vollen Lippen wirkte aristokratisch. Die einzigen Anzeichen für ihr Alter waren die feinen Fältchen um ihre Augen. Geradezu perfekt.
»Ich grüße Sie«, sagte sie, lächelte verlegen und spähte durch den Raum. »Nett haben Sie es hier.«
Diljá zog hinter ihrem Rücken eine Grimasse und bot ihr dann einen Stuhl und Kaffee an, den sie dankend annahm. Eyjalín trank aus der klobigen Bürotasse, als sei sie aus hauchdünnem Porzellan.
»Das tut gut«, sagte sie, stellte die Tasse auf die Untertasse und starrte mit leerem Blick vor sich hin.
Óðinn beschlich der Verdacht,
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