Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
lassen? Die Polizei hat eine ganze Weile gebraucht, um zum Tatort zu kommen, er hätte also genug Zeit gehabt.«
Óðinn sah, wie der selbstgefällige Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwand.
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Sie leckte sich über die Lippen, und ihre mit goldenen Ringen bestückten Finger trommelten nervös gegen die Tischkante. Ihre Schultern zuckten, als liefe ihr ein Schauer über den Rücken. Das konnte kein Kälteschauer sein, denn im Besprechungsraum wurde es mit jeder Minute heißer.
»Dann ist sie es gewesen«, zischte Eyjalín durch zusammengepresste Lippen.
»Sie?«, fragte Diljá irritiert.
»Sie. Diese Hure.« Eyjalín legte ihre zitternde Hand auf ihr Herz. »Aldís.«
Sie riss die Augen auf und sackte in sich zusammen.
»Natürlich.«
29. Kapitel
März 1974
Endlich schien das Winterende in greifbare Nähe gerückt zu sein. Obwohl es noch nicht viele Vorboten des Frühlings gab, ging Aldís fast jeden Morgen leichten Schrittes von ihrem Haus hinüber zum Speiseraum. Es war zwar immer noch nicht hell, aber die Dunkelheit kam ihr nicht mehr so dicht vor wie in den letzten Wochen. Zudem war es nicht mehr so kalt, und der Frost biss nicht mehr in die Wangen und Finger. Der Vogel flatterte über ihr, als habe er denselben Eindruck wie sie. Er hatte sich in der Zwischenzeit erholt und schien zu glauben, dass das Schlimmste überstanden sei. Der Winter würde nicht mehr ewig andauern.
Zur Feier des Tages hatte Aldís ihre besten Kleider angezogen und trug ihr Haar offen. Sie hatte sogar Wimperntusche aufgelegt und war zufrieden mit ihrem Spiegelbild. Sie sah gut aus, und das Wetter versprach schön zu werden. Aber es war nicht nur das. Wenn sie noch so deprimiert gewesen wäre wie in der letzten Zeit, hätte sie ihre üblichen Sachen angezogen und die Wetteränderung und das Licht gar nicht wahrgenommen. Doch nun schien der Schmerz verflogen zu sein, dank der Briefe ihrer Mutter. Sie hatte sie Wort für Wort in der richtigen Reihenfolge gelesen, mindestens zehnmal. Manchmal zwangen die Tränen sie zu einer Pause, und die Sehnsucht nach ihrer Mutter war stärker als ihre Wut. Manchmal weinte sie auch über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das sie voneinander getrennt hatte.
Im Nachhinein betrachtet schienen sie beide überreagiert zu haben, wie von diffusen Kräften angetrieben. Wenn Aldís die mehrmaligen Entschuldigungen ihrer Mutter und die Schilderungen ihrer tiefen Sorge und Sehnsucht früher gesehen hätte, wäre ihre Wut verpufft anstatt immer größer zu werden. Sie schrieb zwar nicht, warum sie diesen Widerling rausgeworfen hatte, hatte sich aber immerhin sofort nach Aldís’ Auszug von ihm getrennt. Das deutete darauf hin, dass sie Aldís geglaubt und gemerkt hatte, was für einen Schuft sie sich ins Haus geholt hatte.
Heute wollte Aldís kündigen. Heute wollte sie auch in Veigars Büro gehen und ihre Mutter anrufen, auch wenn sie eigentlich erst morgen dort putzen sollte. Sie freute sich zwar nicht regelrecht auf das Telefonat, konnte es aber auch nicht erwarten, den Hass auf ihre Mutter endlich loszuwerden.
Der Vogel, der immer noch über dem Hof kreiste, tschilpte. Ein Schatten fiel auf Aldís’ Entscheidung, Krókur zu verlassen. Was würde aus dem armen Kerl werden, wenn sie sich nicht mehr um ihn kümmerte? Obendrein hatte sie Schiss, mit Veigar und Lilja über ihre Kündigung zu reden. Sie wusste nicht, wer von den beiden die Sache besser aufnehmen würde oder ob es geschickter wäre, mit beiden gleichzeitig zu reden. Seit sie ihren Entschluss gefasst hatte, wollte sie jedenfalls keinen Tag länger in Krókur bleiben.
Am liebsten hätte sie schon am selben Abend ihre Sachen gepackt und den Hof am nächsten Morgen verlassen, aber das war unrealistisch. Es gab niemanden, der für sie einspringen konnte, und Lilja würde ihre Arbeit sicher nicht zusätzlich übernehmen, nur damit sie wegkönnte. Außerdem war sie sich nicht sicher, wie lang ihre Kündigungsfrist war. Eine Woche? Ein halber Monat? Ein Monat oder so lange, bis eine Nachfolgerin kam? Was wäre, wenn keine gefunden würde? Würde sie dann bis in alle Ewigkeit in Krókur festsitzen? Wohl kaum. Aldís machte einen Bogen um eine große Schneewehe und beschloss, in dem Fall einfach abzuhauen.
In der Küche schlug ihr Kaffeeduft entgegen. Das war ungewöhnlich. Hákon saß mit einer dampfenden Tasse in der Küche, die Arbeitsplatte stand halb unter Wasser, und er hatte den Kaffee über den
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