Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
genau, wo Óðinn arbeitete. Vielleicht gab es einen triftigen Grund, dass sie es nicht sofort erwähnt hatte, aber es war unverständlich, warum sie es nicht gesagt hatte, als er das letzte Mal mit Rún zu ihr gekommen war und über sein neues Projekt gesprochen hatte. Schämte sie sich dafür, mit dem Heim zu tun gehabt zu haben, oder befürchtete sie, dass er dann in seinem Job befangen wäre? Je länger Óðinn darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam ihm die zweite Erklärung vor; angesichts der momentanen Kürzungen machte sich seine Schwiegermutter wahrscheinlich Sorgen, dass er deshalb seinen Job verlieren könnte, dass ihre Verbindung zu dem Heim dazu führen könnte, dass ihr einziges Enkelkind womöglich darunter zu leiden haben würde, dass sein Vater keine Arbeit mehr hätte. Vielleicht eine ziemlich dramatische Reaktion – aber nicht undenkbar.
Óðinns Kollegen schauten auf, als er in den kleinen Besprechungsraum ging, um dort in Ruhe zu telefonieren. Es war schrecklich kalt, und er schloss das Fenster, bevor er die Nummer seiner Schwiegermutter wählte. Während er darauf wartete, dass sie ranging, musterte er das gerahmte Poster, das noch nicht an der Wand gehangen hatte, als er das letzte Mal dort gewesen war. Er überlegte, ob es zum Jux aufgehängt worden war oder ob Heimir den Hohn nicht begriffen hatte. Auf dem Poster war ein Bild von einem majestätischen Adler im Flug mit dem darunterstehenden Slogan: Anführer sind wie Adler. Hier gibt es weder noch. Óðinns Blick wanderte von dem Poster zum Whiteboard, das endlich jemand abgewischt hatte. Selbst die undeutlichen Spuren der Ziffern waren verschwunden – ohne dass er erfahren hätte, was die Jahreszahlen bedeuteten.
»Hallo?«
Rúns Großmutter klang, als hätte Óðinn sie bei ihrem Nachmittagsschläfchen geweckt. Sie seufzte, als er seinen Namen sagte. Er freute sich ein bisschen, den Spieß endlich umdrehen zu können: Jetzt hatte er sie überrumpelt und kam sofort zum Thema:
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du mal in Krókur gearbeitet hast?«
Die Frau gab keinen Mucks von sich.
»Wäre es nicht ganz normal gewesen, mir das zu sagen?«, fragte er, wartete dann einen Moment und ließ ihr Zeit, zu sich zu kommen. Als sie endlich antwortete, war ihre Stimme kleinlaut und nicht so anmaßend wie sonst.
»Wäre das so wichtig gewesen? Ich habe da ein paar Monate geputzt. Ich habe mich nicht um die Jungen gekümmert.«
»Aber du wusstest doch, was da vor sich ging?«
»Da war ich nicht die Einzige.«
»Die meisten, die in Krókur gearbeitet haben, leben nicht mehr. Wahrscheinlich warst du die jüngste Mitarbeiterin.«
»Woher sollte ich das denn wissen, Óðinn? Nachdem ich weg war, habe ich nicht mehr an diesen Ort gedacht. Ich weiß nichts über die Leute, die vor oder nach mir dort gearbeitet haben.«
»Du hättest es mir trotzdem sagen sollen. Jetzt muss ich melden, dass ich mit einer ehemaligen Heimmitarbeiterin verwandt bin und erklären, warum ich das nicht sofort bekanntgegeben habe. Wenn du es mir von Anfang an anvertraut hättest, wäre es vielleicht kein Problem gewesen. Aber jetzt wirkt es verdächtig. Oder zumindest merkwürdig.«
Óðinn wusste, dass das wahrscheinlich nicht stimmte. Heimir hätte den Fall jemand anderem übergeben, wenn sich die Verbindung sofort herausgestellt hätte. Obwohl Óðinn eine technische Ausbildung hatte und bei solchen Kinkerlitzchen nicht so empfindlich war, wie Heimir es formuliert hatte.
»Wie hast du es herausgefunden?«, fragte Aldís anklagend, als hätte jemand ihr Vertrauen missbraucht.
»Das spielt keine Rolle«, antwortete Óðinn. Er wollte ihr keinen Einblick in das Projekt geben, nur weil sie miteinander verwandt waren. Jetzt würde ein Kollege den Fall übernehmen, und er wollte ihm nichts verderben. Hoffentlich wäre es Diljá. Die würde diese bornierte Person schon knacken. »Aber jetzt, wo ich es weiß, würdest du mir da sagen, wann du im Heim gearbeitet hast?«
»Kannst du das nicht selbst rausfinden?«
Óðinn bereute es, sich bei ihr für seine damaligen Fehler entschuldigt zu haben, er war dieser Frau nichts schuldig.
»Klar, aber ich dachte, du könntest mir vielleicht die Mühe abnehmen. Oder ist das zu viel verlangt?«, sagte er.
Für einen kurzen Moment blieb es am anderen Ende der Leitung still. Dann sagte sie:
»Ich habe im September 1973 angefangen und war bis März oder Februar 1974 da.«
»Du warst also vor Ort, als der Unfall
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