Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
keineswegs sicher, ob sie ihm erzählen sollte, was sie über das Mädchen wusste. Es sei denn, sie erführe im Gegenzug etwas über seine eigene Geschichte.
»Ich gebe dir heute Nachmittag in der Kaffeepause Bescheid«, sagte sie.
Ohne Abschiedsgruß eilte Aldís hinaus. Es war bewölkt, kein Licht, das den dunklen Morgen erhellte. Sie rannte zum kleinen Haus, wollte sich das Gesicht waschen und die Zähne putzen. Und sich übergeben. Auf einmal war ihr furchtbar schlecht.
28. Kapitel
»Mir ist wieder eingefallen, woher ich den Namen kannte!«
Diljá stand plötzlich neben ihm, die Hand in die Hüfte gestützt.
»Welchen Namen?« Óðinn starrte sie an, sich dessen bewusst, wie mitgenommen er aussah. Nachdem er aus der Geriatrie-Abteilung zurückgekehrt war, hatte er auf seinen Bildschirm geglotzt, ohne etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Er fand einfach keine Antworten auf die endlosen Fragen, die auf ihn einströmten. Erst jetzt merkte er, wie unbeschreiblich froh er über seinen eintönigen Arbeitsplatz war – niemand hatte ihn gestört, niemand hatte gefragt, warum er wie erstarrt auf seinem Stuhl saß. Bis Diljá aufgetaucht war.
»Eyjalín. Weißt du nicht mehr? Mir kam der Name doch so bekannt vor. Jetzt weiß ich wieder, woher«, sagte Diljá und hielt ihm ein Blatt hin, das frisch aus dem Drucker kam. »Sie hat einen Nachruf auf Róberta geschrieben.«
Óðinn musterte das Blatt und versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren. Er war kurz und gab keinen Anlass für die Vermutung, dass die beiden Frauen miteinander verwandt waren oder sich besonders nahegestanden hatten. Róberta schien Eyjalín geholfen zu haben, als sich andere von ihr abgewandt hatten, und sie war ihr dafür ewig dankbar.
»Das sagt ja nicht so viel aus«, meinte Óðinn.
Diljá machte ein sauertöpfisches Gesicht. Sie riss ihm das Blatt aus der Hand, und ihre Halsketten, die ihr fast bis zur Taille hingen, klimperten.
»Was hast du denn erwartet?« Sie starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ist alles okay mit dir? Die anderen sagen, du wärst irgendwie komisch und würdest nur stumpf vor deinem Computer hocken.«
»Mir geht es gut, ich denke nur nach.«
»Dann denk mal darüber nach!«, entgegnete sie und wedelte mit dem Blatt vor seinem Gesicht herum. »Wie wär’s, wenn du diese Frau mal anrufst und sie nach ihrer Verbindung zu Róberta fragst?«
Ungeduldig schüttelte sie den Kopf, so dass ihre Halsketten wieder klimperten.
»Oder soll ich es machen?«
Óðinn wusste nicht, was er wollte. Er war einfach überfordert, diesen Fall aus zwei Blickwinkeln zu betrachten, zumindest, wenn der eine ihm so nahe war.
»Ja, danke«, antwortete er und versuchte vergeblich, ein Lächeln hervorzupressen. »Seit wann interessierst du dich eigentlich für das Projekt? Ich dachte, du wärst der Meinung, dass es Unheil nach sich zieht oder so was Absurdes.«
»Mir ist langweilig. So einfach ist das. Außerdem habe ich den Eindruck, dass du Unterstützung gebrauchen kannst. Du nimmst das alles so persönlich.«
»Damit hast du leider recht.« Óðinn zielte mit einem Bleistift auf den Becher, in dem er seine Stifte aufbewahrte, traf aber nicht. »Aber es wäre super, wenn du sie für mich anrufen würdest.«
»Okay.«
Diljá schien noch etwas hinzufügen zu wollen, machte dann aber mit klimpernden Ketten auf dem Absatz kehrt und ging zu ihrer Box. Sie drehte sich noch einmal kurz um, bevor sie um die Ecke bog, ihre Augen trafen sich, und Óðinn hatte den Eindruck, dass sie ihn mitleidig ansah. Er konnte es nicht ausstehen, wenn die Leute glaubten, er hätte es so furchtbar schwer. Sie konnten ihn mögen oder nicht, sollten ihn aber nicht bemitleiden. Die Empörung riss ihn zurück in die Realität. Wie hatte er sich nur so aus dem Gleichgewicht bringen lassen? Wenn er es merkwürdig fand, dass seine Schwiegermutter mit keinem Wort erwähnt hatte, dass sie in dem Erziehungsheim gearbeitet hatte, musste er sie eben darauf ansprechen. Jedenfalls war die Lösung nicht in seinem Bildschirmschoner auf dem Computer zu finden. Vielleicht gab es ja eine natürliche Erklärung für ihr Schweigen. Es war sogar durchaus denkbar, dass ihr seltsames Verhalten ihm gegenüber in der letzten Zeit damit zu tun hatte. Sie hatte die Gelegenheit verpasst, ihm von diesem Zusammenhang zu erzählen, und es später nicht mehr hingekriegt. Als Róberta sich bei ihr vorgestellt hatte, musste ihr ein Licht aufgegangen sein, denn sie wusste
Weitere Kostenlose Bücher