Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
den Boden, wie auf der Suche nach weiteren Briefen. Er blieb an der Kiste hängen, und Aldís sah, wie das Mädchen den Deckel abhob, hörte das Rascheln von Papier und kurz darauf ein leises Luftschnappen. Dann verging einige Zeit. Schließlich wurde die Kiste wieder zugemacht, und Aldís sah die schlanken Beine die Treppe hinaufsteigen. Als alles wieder schwarz wurde, war Aldís froh über die Finsternis, froh, alleine und unsichtbar zu sein. Hier würde sie bleiben, bis das Mädchen ganz sicher weg wäre.
Als Aldís zusammengerollt auf dem Steinboden in der Kammer aufwachte, konnte sie sich kaum bewegen. Sie musste im Schlaf in diese Stellung gerutscht sein, denn das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich schläfrig an die Wand gelehnt und beschlossen hatte, die Nacht dort unten zu verbringen. Sie hielt es für das Sicherste, abzuwarten, bis alle aufgestanden waren, und dann einfach aus dem Keller zu kommen, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, so zu tun, als sei sie schon längst bei der Arbeit. Zum Glück war sie vollständig bekleidet und nicht nur mit der Jacke über dem Schlafanzug in die Nacht hinausgegangen. Früh am Morgen würde niemandem auffallen, ob ihr Haar nicht gekämmt oder ihre Zähne nicht geputzt wären. Sie könnte dann im Lauf des Morgens einfach kurz in ihr Zimmer gehen und sich frisch machen.
In der Kammer war es stockdunkel und unmöglich festzustellen, wie spät es war. Aldís hatte das Gefühl, dass es schon Morgen sein musste. Trotzdem traute sie sich nicht, die Tür aufzumachen, bis sie von oben die üblichen Alltagsgeräusche hören würde. Kurz darauf waren an mindestens zwei Stellen im Haus Schritte zu hören, und der Klang von Stimmen drang zu ihr hinunter. Sie war vor Freude den Tränen nah. Dennoch öffnete sie die Tür ganz vorsichtig und vertraute nicht darauf, dass sie wirklich sicher war.
Im Keller war niemand zu sehen. Aldís’ Zehen schmerzten vor Kälte, und sie spürte ihre Finger kaum mehr, konnte aber scharf sehen, weil sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Mühsam kam sie auf die Beine und hörte ihre Knie und Gelenke knacken. Dann ging sie aus der Kammer, ohne den modrigen Geruch länger wahrzunehmen, zumal sie bestimmt schon genauso roch. Das hatte sie nicht bedacht, hoffentlich roch es niemand oder fragte sie danach. Als Aldís die Treppe hinaufgestiegen war, wartete sie, bis ganz sicher niemand in der Nähe war, und eilte dann aus dem Keller. Das Licht und die Wärme empfingen sie so herzlich, dass sie am liebsten auf die Knie gefallen wäre, doch sie widerstand der Versuchung, klappte die Kellerluke zu und wischte sich den Staub ab.
Da tippte ihr jemand auf die Schulter.
»Wo kommst du denn her?« Sie drehte sich um und sah Einar, der sie verwundert anschaute. »Was ist passiert?«
Aldís strich sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und tat so, als sei nichts geschehen. Sie hielt seinem Blick stand und ignorierte seine dichten, dunklen Wimpern und seine markanten Wangenknochen.
»Nichts, ich hab nur verschlafen und hatte keine Zeit mehr, mich zurechtzumachen.«
Einar hob die Augenbrauen, fragte aber nicht weiter nach.
»Ich hab dich vermisst. Wir sehen uns gar nicht mehr.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich viel lerne.« Aldís’ Stimme klang wie aus einer Kiste im Keller ausgegraben: heiser und staubig. Sie räusperte sich. »Ich will nicht bis in alle Ewigkeit hierbleiben.«
Einar lächelte, und ihr fiel wieder ein, warum sie sich von ihm angezogen gefühlt hatte. Es hatte überhaupt nichts mit ihrer Situation zu tun. Er hob sich von den anderen ab und hätte es auch an jedem anderen Ort getan.
»Ich auch nicht«, sagte er, strich ihr eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, zärtlich hinters Ohr und ließ dann seine Hand sinken. »Was hältst du davon, heute Abend mal eine Pause zu machen. Nur für eine Stunde oder so. Wir können uns in den Stall schleichen und ein bisschen quatschen. Ich werde hier langsam verrückt.«
Sie wusste genau, worauf er hinauswollte.
»Vielleicht. Ich weiß noch nicht.«
»Wann weißt du es denn? Ich gehe nicht das Risiko ein, mich rauszuschleichen, wenn du nicht kommst. Veigar glaubt nämlich, dass sich hier nachts jemand rumtreibt, und ist total nervös. Er hat uns gestern eine Standpauke gehalten, als wären wir das gewesen.«
Aldís konnte weder lächeln, noch zu diesen nächtlichen Vorgängen etwas sagen. Dafür war sie noch viel zu aufgewühlt und sich
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