Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
seines Sichtfeldes gefunden.
»Doch, es scheint mir richtig zu sein, mit diesen Leuten zu reden. Aber hatte Róberta nicht schon ein paar von ihnen befragt? Das wäre doch normal gewesen. Ich überlege nur, ob es nicht einen schlechten Eindruck hinterlässt, noch mal mit denselben Leuten zu reden.«
»Ich habe diesbezüglich nichts gefunden.«
»Hast du Róbertas Projektzeiterfassung gecheckt?«
»Nein, ich wusste nicht, dass ich Zugang dazu habe. Daran habe ich ehrlich gesagt nicht gedacht.«
»Die hat sie immer sehr gewissenhaft ausgefüllt und ihre täglichen Aufgaben ziemlich genau beschrieben.« Heimir warf Óðinn einen Blick zu und gab ihm wortlos zu verstehen, dass er sich daran durchaus ein Vorbild nehmen könne. »Ich lasse sie für dich ausdrucken. Du kommst da selbst nicht rein. Falls sie schon Gespräche geführt hat, geht es hoffentlich daraus hervor.«
Das klang vernünftig, und Óðinn wollte schon gehen, als ihm noch etwas einfiel:
»Noch eine Frage. Hat sich Róberta darüber beschwert, dass sie bedroht wurde?«
»Bedroht?«, fragte Heimir verdutzt. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ach, nur so. Darüber können wir ein andermal reden. Wer wusste eigentlich außerhalb der Behörde noch davon, dass Róberta an dem Bericht gearbeitet hat?«
Heimir verzog das Gesicht, wobei sein Auge zurück an seinen Platz rutschte.
»Moment mal, willst du etwa durchblicken lassen, dass jemand vom Innenministerium oder von der Jugendschutzbehörde Róberta bedroht hat? Warum?«, sagte er und rümpfte verächtlich die Nase. »Das ist undenkbar. Abgesehen davon, dass sich niemand dafür interessiert, wer bei uns an dem Projekt arbeitet. Man ist wirklich nicht so erpicht auf den Bericht, dass man sich darüber den Kopf zerbrechen würde.«
Óðinn nickte und verabschiedete sich, bevor Heimir die Besprechung weiter in die Länge ziehen konnte. Wenn innerhalb der Verwaltung niemand wusste, dass Róberta den Bericht schreiben sollte, war es unwahrscheinlich, dass die Mails von dort stammten. Da kamen wohl nur ihre Gesprächspartner in Frage. Und das konnten eigentlich nur die ehemaligen Bewohner von Krókur sein. Oder die Mitarbeiter.
Róberta hatte ihre Aufgaben klar und deutlich in die Zeiterfassung eingetragen. Óðinn hatte die letzten sechs Monate ausgehändigt bekommen und war bei der Hälfte angelangt, als er stutzte. In einem Eintrag stand: Die Briefe durchgesehen. Das hatte zweieinhalb Stunden gedauert. Am nächsten Tag gab es denselben Eintrag mit einem Zeitfenster von einer Stunde. Was waren das für Briefe? Er hatte in Róbertas Unterlagen keine Briefe gefunden. Óðinn markierte den Eintrag und machte weiter. Kurz darauf stieß er auf einen weiteren Eintrag, den er nicht verstand. Mit Anenzephalie vertraut gemacht. Er googelte das Wort und fand heraus, dass es sich dabei um eine schwere Fehlbildung handelte. Selten hatte er etwas so Abstoßendes wie auf den beigefügten Fotos gesehen: Babys, deren Augen sich auf den ersten Blick oben auf der Stirn befanden, doch wenn man genauer hinsah, genau an der richtigen Stelle waren. Aber es fehlte der obere Teil des Kopfes. Óðinn las in einem Artikel, dass es sich um einen Geburtsfehler handelte, bei dem den Kindern das Gehirn fehlte. Die Schädelknochen entwickelten sich im Bauch der Mutter anders als bei einem gesunden Fötus, und die Schädeldecke schloss sich nicht. Der Kopf endete direkt oberhalb der Augen. Was konnte das mit Róbertas Projekt zu tun haben? Óðinn war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte, und schloss rasch den Internetbrowser, um den Text und die Bilder nicht mehr vor Augen haben zu müssen.
Er ging zum Fenster und steckte den Kopf hinaus, um frische Luft zu schnappen. Vielleicht war er nicht der richtige Mann für dieses Projekt. Doch seine Zweifel verflogen schnell, er ging zurück zum Schreibtisch und vertiefte sich wieder in die Zeiterfassung. Was für ein Horror!
11. Kapitel
Januar 1974
Niemand glaubte ihr – außer vielleicht Tobbi, aber das hatte nichts zu bedeuten, da er dabei gewesen war. Die anderen starrten sie nur dumpf an und meinten, sie müsse sich das eingebildet haben und solle keinen Unsinn erzählen. Dazu gehörten auch Veigar und Lilja, die sogar sauer auf sie waren, weil sie den Jungen solche Angst einjagte. Sie sei hysterisch und solle den Mund halten, bis sie sich wieder beruhigt habe. Darauf waren sie schon am Abend zuvor herumgeritten und machten am Morgen weiter. Sogar der Vogel drehte
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