Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
ihr auf dem Dach des Hauptgebäudes den Rücken zu, als sie über den Hof ging.
Aldís wippte auf der baufälligen Holzbank hinter dem kleinen Haus mit den Beinen, um ihre Wut abzukühlen. Die Bank war schon uralt, was man an den drei Kuhlen in der Sitzfläche erkennen konnte. Ihre Turnschuhe schwangen vor der Bank hoch und tauchten wieder weg, schwangen hoch und tauchten weg, und jedes Mal, wenn sie hochschwang, wurde Aldís noch wütender. Bei einem Schuh bohrte sich bereits ihr großer Zeh durch den fadenscheinigen Stoff. Wenn sie in die Stadt zog, würde sie sich als Erstes neue, schicke Schuhe kaufen. Mit diesen Lumpen würde ihr ja niemand einen richtigen Job geben. Stewardessen trugen beispielsweise hochhackige Schuhe. Keine flachen, löchrigen Turnschuhe. Sie zog an der Zigarette, die Steini für sie gedreht hatte, als er gesehen hatte, wie es ihr ergangen war. Er war kein Mann der großen Worte, und das war seine Art, ihr zu zeigen, dass er zu ihr hielt, obwohl er wusste, dass sie eigentlich nicht rauchte. Aldís blies eine dichte Qualmwolke aus, die der Wind sofort wegwehte, als wolle er mit dem Rauch spielen.
»Hast du zufällig noch eine für mich?«
Einar war gekommen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte, weil sie sich so über Veigars und Liljas Rücksichtslosigkeit aufgeregt hatte. Außerdem bewegte er sich sehr behutsam und leise, anders als die anderen Jungen, die immer laut umherstapften. Dabei schlich er nicht bewusst. Diese Art zu gehen schien ihm in die Wiege gelegt worden zu sein und ähnelte der Fortbewegung, die Aldís in einem Dokumentarfilm bei großen Wildkatzen gesehen hatte.
Sie unterdrückte ein Husten.
»Nein, nur die«, antwortete sie und hielt ihm die halbgerauchte, krumme Zigarette hin, während sie einen Tabakkrümel von ihrer Lippe knibbelte. Sie kam nicht so gut mit Selbstgedrehten zurecht, und das Ende der Zigarette war nass und feucht. »Willst du mal ziehen?«
Einar setzte sich neben sie und sog den Rauch gierig ein.
»Mann, wie ich das vermisse«, sagte er.
»Ich vermisse Süßigkeiten. Ich träume von einer Riesencola und Lakritzstangen«, sagte Aldís und winkte ab, als Einar ihr die Zigarette zurückgeben wollte. »Eigentlich rauche ich gar nicht. Du kannst sie behalten.«
Einar lächelte und zog wieder an der Zigarette.
»Das tut so gut. Leider kann ich dir dafür keine Süßigkeiten besorgen.« Er zündete die Zigarette erneut an. »Warum rauchst du, wenn du eigentlich gar nicht rauchst?«
»Ich bin einfach so genervt und dachte, das würde mich runterholen.«
Aldís wusste nicht, ob es am Nikotin oder an seiner Nähe lag, aber auf einmal war sie gar nicht mehr sauer. Zurück blieb ein dumpfes, lethargisches Gefühl, ein Druck auf der Seele, den die Wut hinterlassen hatte.
»Ist es wegen der Sache gestern Abend? Tobbi hat mir davon erzählt. Er hat furchtbar gezittert, als er gestern Abend endlich reinkam.«
Der Wind drehte sich, und der Qualm zog zu Aldís. Sie wollte ihn mit der Hand wegwedeln, hielt aber inne. Einar sollte sie ja nicht lächerlich finden. Ihre Schuhe waren schon schlimm genug, und sie versteckte ihre Füße unter der Bank.
»Geschieht ihm recht. Wenn er zu mir gehalten hätte, wäre ich nicht so ausgeschimpft worden.« Sie leckte sich über die Lippen, die nach Zigarette schmeckten. »Er hat so dermaßen blöde reagiert. Am liebsten hätte ich ihm eine runtergehauen.«
»Das bringt auch nichts. Er ist schon fertig genug, da musst du nicht noch einen draufsetzen. Ich habe kaum ein vernünftiges Wort aus dem armen Kerl rausgekriegt.«
Die Zigarette war bis zu Einars Fingerkuppen abgebrannt, und er schnippte die Kippe weg. Sie landete in einem Blumenbeet mit schmutzigem Schnee und ein paar Stängeln vom letzten Sommer.
»Was ist eigentlich passiert? Alle reden darüber, aber keiner weiß was Genaues. Die Geschichte wird immer unheimlicher, je mehr die Jungen sie ausschmücken«, meinte Einar.
»Sie können sie kaum unheimlicher machen, als sie war.«
Aldís wünschte sich, sie hätte noch eine Zigarette von Steini geschnorrt, dann könnte sie sie Einar geben und ihn dazu bringen, noch ein bisschen bei ihr sitzen zu bleiben. Er machte zwar keine Anstalten zu gehen, aber es war wie mit allem Schönen und Netten – es würde viel zu kurz dauern.
»Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst. Aber wenn du es dir von der Seele reden willst, dann leg einfach los.«
Einar war ganz anders als alle anderen, die Aldís bisher
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