Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
alles. Ich durfte den Termin sogar selbst festlegen, um Ihnen eine Vorstellung von meinem Stress zu geben. Rún bekommt davon gar nichts mit.«
Das schien die Therapeutin nicht wirklich zu überzeugen.
»Ich war beim Arzt.«
Heimir konnte seine Neugier nicht verbergen und hatte Óðinn, als er zurück ins Büro gekommen war und ihre Besprechung anfing, gefragt, wo er gewesen sei. Óðinn wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, ihm zu erzählen, dass er bei einer Psychotherapeutin gewesen war.
»Hoffentlich nichts Ernstes?«, fragte Heimir mit beschwörendem Blick.
»Nein, nein.«
»Dann ist ja gut. Man erschrickt ja ein bisschen, wenn ein Mann im besten Alter einen Arzttermin hat. Aber wenn du sagst, dass es nur eine Lappalie ist, muss man sich ja keine Sorgen machen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es eine Lappalie ist, nur, dass es nichts Ernstes ist«, entgegnete Óðinn, um Heimir ein bisschen aufzurütteln. Warum ärgerte er den armen Kerl immerzu? Es war ja nicht seine Schuld, dass Óðinns Leben so war, wie es war. Im Gegenteil. Er hatte ihn eingestellt, und niemand wusste, wie seine und Rúns Situation aussähe, wenn er weiter bei seinem Bruder gearbeitet hätte und ständig von zu Hause weg gewesen wäre.
»Übrigens wollte ich dir mitteilen, dass ich mit einigen der ehemaligen Heimbewohner sprechen werde. Vorausgesetzt, sie sind dazu bereit. Dazu bräuchte ich von dir noch grünes Licht, man will sich ja nicht in die Nesseln setzen.«
»Warum in die Nesseln setzen?«, fragte Heimir mit banger Miene, und sein schielendes Auge glitt ab. Er strich mit den Handflächen über die glänzende Tischplatte seines leeren Schreibtischs, als wolle er unsichtbaren Staub wegwischen. Wie üblich trug er einen etwas zu schicken Anzug mit Krawatte, stets bereit, zu einem Meeting in irgendeinem Ministerium zu eilen, obwohl das nur selten vorkam.
»Nehmen wir mal an, dass einer meiner Gesprächspartner von einem üblen Traum aufwacht und sich an die Presse wendet. Bis jetzt haben die früheren Heimbewohner keinen Pieps von sich gegeben, und es könnte heikel sein, das Thema anzustoßen. Aber der Bericht wäre sein Papier nicht wert, wenn darin nichts über deren persönliche Erfahrungen stünde. Das, was ich bis jetzt habe, spiegelt nur die Sicht der Behörden, und die haben ja bei den anderen Heimen auch beide Augen zugemacht.«
Während Óðinn auf Heimirs Antwort wartete, lauschte er auf die leisen Geräusche, die zu ihnen hereindrangen, obwohl die Bürotür geschlossen war. Er hörte, wie die Sekretärin auf der Tastatur tippte, er hörte, wie die Kaffeemaschine blubberte, und er hörte den nervigen Klingelton eines Handys, an das niemand ranging. Dabei war er so erleichtert, dass er aufpassen musste, nicht zu lächeln. Die Therapeutin hatte recht gehabt, er war sensibler im Bezug auf seine Umgebung. Alles, was er für Anzeichen von Verrücktheit oder Besessenheit gehalten hatte, waren nichts anderes als normale Geräusche, die er sonst nicht wahrgenommen hatte. Doch je länger er lauschte, desto unwohler fühlte er sich, und der Drang zu lächeln verschwand komplett. Er wünschte sich, Heimir würde endlich zur Sache kommen. Das Klappern der Tastatur klang, als schreibe jemand etwas Unfreundliches und zerstöre die Erwartungen eines kleinen Bürgers, und der Klingelton kündigte bestimmt eine schlimme Nachricht an, einen plötzlichen Todesfall oder das schlechte Ergebnis einer Krebsuntersuchung.
Óðinn räusperte sich, um die Geräusche zu ersticken, wenn auch nur für einen Augenblick. Daraufhin ergriff Heimir endlich das Wort:
»Da sagst du was. An die Presse hatte ich noch gar nicht gedacht.«
Er verstummte und schien darauf zu warten, dass Óðinn etwas entgegnete.
»Es ist davon auszugehen, dass die Presse Kontakt zu den ehemaligen Heimbewohnern aufnehmen wird, wenn der Bericht raus ist, und wenn dann ans Licht kommt, dass wir ihn zusammengeschustert haben, ohne uns mit deren Blickwinkel auseinanderzusetzen, gehen alle auf die Palme.«
»Du möchtest diese Gespräche also unbedingt führen?«
»Es geht nicht darum, was ich möchte. Die Aussagen der Leute gehören in diesen Bericht. Wenn auch nur, um zu bestätigen, dass das Heim vorbildlich geführt wurde. Aber vielleicht kommt dabei auch heraus, dass das offizielle Bild nichts mit dem gemein hat, was wirklich in Krókur passiert ist.«
Heimirs schielendes Auge, das zur Seite gerutscht war, hing nun fest, als habe es die Antwort außerhalb
Weitere Kostenlose Bücher