Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
spürte, wie sich sein Adamsapfel auf und ab bewegte.
»Nein, sicher nicht. Das war sehr vernünftig von Ihnen«, sagte Nanna lächelnd, und Óðinn fühlte sich wie bei einem positiven Bewerbungsgespräch. »Der Körper nutzt den Schlaf, um Erinnerungen im Gehirn zu speichern und so zu sortieren, dass man sie später wiederfindet. Deshalb ist es wichtig, vor einer Prüfung zu schlafen, denn wenn man die ganze Nacht lernt, hat das Gehirn keine Zeit, die Informationen zu verarbeiten. Sie werden irgendwo im Gehirn gespeichert, aber man weiß nicht mehr, wo. Wie Papiere, die man gedankenlos herumfliegen lässt, anstatt sie an einem bestimmten Ort abzulegen. Man findet sie nicht mehr, wenn man sie braucht. Weil Sie wach lagen, sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit nicht klar.«
Wieder lächelte Nanna, und wieder fühlte er sich wie ein Musterknabe. Vielleicht ging es ja allen so, die mit ihr redeten.
»Damit habe ich doch bestimmt recht, nicht wahr? Oder können Sie sich genau erinnern, wie es damals war und wie Sie sich fühlten?«
Óðinn überlegte kurz, bevor er antwortete. Bisher hatte er gar nicht versucht, sich speziell an diese Zeit zu erinnern. Er hatte nie einen Grund gesehen, sich mit den schlimmen Ereignissen auseinanderzusetzen. Es brachte nichts, sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen oder sich Sorgen über die Zukunft zu machen. Das war zumindest seine Erfahrung. Bis jetzt.
»Nein, ich kann nicht sagen, dass ich mich gut daran erinnere, bis auf die wichtigsten Dinge natürlich, aber nicht unbedingt daran, was ich gedacht und wie ich mich gefühlt habe.«
Óðinn spürte, wie armselig das klang, konnte aber nicht besser antworten. Er senkte den Blick und glotzte auf den Verkehr vor dem Fenster. Eigentlich wollte er nicht mehr dazu sagen, aus Angst, dass ihre Fragen in eine unangenehme Richtung führen würden. Sie würde ihn bestimmt danach fragen, wie er sich gefühlt hatte, als er die Nachricht von Láras Tod erhalten hatte, und darüber wollte er auf keinen Fall reden. Er hatte verkatert im Bett gelegen und war kaum in der Lage gewesen zu sprechen, geschweige denn richtig zu verstehen, was das für ihn bedeutete.
Als Lára auf den harten Asphalt aufgeprallt war, war er auf Zechtour und so besoffen und fertig gewesen, dass er sich nicht mal daran erinnerte, wie er nach Hause gekommen war und wo er die letzten Stunden verbracht hatte. Er erinnerte sich dunkel, sich angeregt mit einem jungen Mann unterhalten zu haben, der seinen Junggesellenabschied feierte und genauso betrunken war wie er. Wahrscheinlich hatte er gerade mit zitternder Hand das Taxi bezahlt, als sich Lára in dem verzweifelten Versuch, den Aufprall abzumildern, mit den Händen abgestützt hatte. Óðinn versuchte, sein Unbehagen über seine eigene moralische Schwäche zu verbergen. Er wollte nicht, dass Nanna merkte, woran er dachte. Wenn er ihr davon erzählte, würde das hübsche Lächeln von ihren Lippen verschwinden, und er wollte nicht, dass sie ihn als Dreckskerl und Säufer ansah. Diese Zeiten waren vorbei.
»Gibt es denn einen Grund, dass man versuchten sollte, die Erinnerungen an den richtigen Platz im Gehirn zu schieben, wenn man sie zufälligerweise verloren hat?«, fragte er.
Das Lächeln der jungen Frau verblasste, doch sie hatte sich sofort wieder im Griff.
»Nein, nicht unbedingt. Ich versuche nur, mir ein Bild von den Ereignissen zu machen, damit ich Ihrer Tochter besser helfen kann. Und Ihnen vielleicht auch. Sie haben erwähnt, dass Sie Sinnestäuschungen haben, die Ihrer Meinung nach mit dem Unfall Ihrer Exfrau zusammenhängen. Das ist eher ungewöhnlich, und ich versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Ihre Beschreibungen weisen darauf hin, dass Sie die Sache noch nicht richtig verarbeitet haben. Auch wenn man nicht ständig an bestimmte Ereignisse denkt, heißt das nicht, dass sie nicht da sind. Ich rate Ihnen eindringlich, sich ebenfalls Hilfe zu holen, während Rún zu mir kommt. Der Psychologe, den Sie damals getroffen haben, hat einen sehr guten Ruf.«
Daran hatte Óðinn nun wirklich nicht gedacht. Er spähte zu der riesigen, geschmackvollen Uhr an der Wand.
»Und was könnte der machen, damit das aufhört? Ich habe gelinde gesagt die Nase voll von diesen Halluzinationen und wäre froh, wenn Sie mir einen Rat geben könnten«, sagte er.
»So einfach ist das nicht. Ich kann kein Wundermittel aus dem Ärmel schütteln. Leider. Wenn Sie definitiv gegen eine Psychotherapie sind, könnte ich
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