Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
aufbewahrt und ihnen erst bei ihrer Entlassung ausbezahlt wurde.
»Ich habe ihnen nichts davon erzählt. Habe einfach gelogen, als der Alte mich gefragt hat, ob ich was dabei habe.«
»Woher willst du wissen, dass ich dich nicht verpetze?«
Einar erstarrte, als er gerade die Brieftasche aufmachen wollte.
»Ich weiß es einfach.«
Er versuchte, ihren Blick zu erhaschen, aber sie war ganz auf das Foto in der Plastikhülle in seiner Brieftasche fixiert.
»Wer ist das auf dem Foto?«, fragte sie und musterte ihn.
Einar klappte die Brieftasche sofort zu.
»Niemand.« Er wirkte verstimmt, schaute sie aber im nächsten Augenblick wieder lächelnd an. »Meine Mutter. Ziemlich peinlich.«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte Aldís.
Aber es war trotzdem peinlich. Sie blickten beide auf die braune Brieftasche, die in seiner flachen Hand lag, bis er sie wieder in seine Hosentasche steckte und die Arme verschränkte.
»Willst du jetzt doch nicht, dass ich Zigaretten für dich kaufe?«, fragte Aldís vorsichtig.
»Nein, nein, vielleicht später.«
Er erklärte nicht, warum er seine Meinung geändert hatte, und die Unterhaltung wurde stockend und verzagt, ohne dass Aldís verstand, was passiert war. Als er sich verabschiedete, blieb sie sitzen und fühlte sich noch elender als vorher. Der Wind blies durch ihre Haare, die um ihren Kopf wirbelten, als wollten sie mit aller Gewalt von ihr fort. Sie versuchte sie herunterzudrücken, gab aber am Ende auf und blieb noch eine Weile mit wirr durcheinanderfliegenden Haaren sitzen.
In ihrem Inneren rangen Wut und Trauer miteinander, und sie überlegte, ob es nicht das Beste wäre, einfach da draußen auf der Bank zu erfrieren. Kalt genug war es jedenfalls. Es würde niemanden kümmern, wenn sie starb, und alle, die sie schlecht behandelt hatten, würden leiden, würden es bereuen, sich nicht mit ihr ausgesöhnt zu haben. Ihre Mutter zum Beispiel. Das geschähe ihr recht. Doch Aldís wurde schnell klar, dass das so nicht funktionieren würde. Die meisten würden nur den Kopf schütteln und sich darüber auslassen, dass sie schon immer ziemlich dämlich gewesen sei, dass das zu ihr passen würde. Lilja und Veigar wären bestimmt dieser Meinung.
Irgendwann hatte sie genug von ihrer schlechten Laune. Warum ließ sie sich immer so von anderen runterziehen? Sie war gestern Abend im Speiseraum gewesen und nicht die anderen, die meinten, genau zu wissen, was passiert sei. Es war albern, sich von der Dummheit anderer Leute beeinflussen zu lassen, und sie hatte keinen Grund, an sich selbst zu zweifeln. Schon etwas munterer, zog sie sich die Kapuze über den Kopf. Ihr wildes Haar beruhigte sich und legte sich sanft an seinen Platz, als sei nichts gewesen. Aldís konnte wieder besser sehen, und als sie aufstand, fiel ihr Blick auf Einars braune Brieftasche unter der Bank.
Sie hob die Brieftasche auf, drehte sie in ihren Händen und wischte ein paar Schneeflocken von der Rückseite. Dann starrte sie das braune Leder an und überlegte, ob sie Einar suchen und ihm die Brieftasche zurückgeben oder einen Blick auf das Foto werfen sollte, das er ihr nicht hatte zeigen wollen. Sie spähte in alle Richtungen, sah niemanden und klappte die Brieftasche auf. Da war das Foto unter der zerkratzten, matten Plastikhülle. Es war auf keinen Fall von seiner Mutter, denn es zeigte Einar und ein jüngeres Mädchen, das ihm den Arm um den Hals gelegt hatte und in die Kamera lächelte. Sie war wunderschön, hatte große Augen mit dichten Wimpern, hohe Wangenknochen und volle Lippen, die beim Lächeln ihre großen, weißen Zähne entblößten. Sie sah eher aus wie ein Fotomodell aus einer Modezeitschrift als wie ein normaler Mensch, und ihre Ausstrahlung schien auf Einar übergegangen zu sein, denn auf dem Foto wirkte er noch attraktiver als in Wirklichkeit. Doch Aldís musterte eher seine Freundin als ihn. Sie ärgerte sich über ihre Schönheit, auch wenn das kindisch war. Es ging sie nichts an, dass Einar eine Freundin hatte, und sie sollte sich darüber freuen, dass sie so toll aussah. Aber dennoch … Nun war sie neugierig darauf, wie das Mädchen hieß, wer sie war und ob die beiden noch ein Liebespaar waren. Einars Reaktion auf Kelis Spruch, seine Freundin sei eine Hure, wies jedenfalls darauf hin. Wer prügelte sich schon für die Ehre seiner Exfreundin?
Bevor Aldís wusste, was sie tat, durchsuchte sie die Brieftasche. Als Erstes zog sie Einars Ausweis heraus. Die kupferfarbene Schnalle, mit der man
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