Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
real ist. Sie dürfen solche Dinge einfach nicht an sich ranlassen, zumindest nicht, wenn Rún in der Nähe ist. Aber auch Ihretwegen nicht.«
»Das ist vorbei. Darüber muss ich mir Gott sei Dank nicht mehr den Kopf zerbrechen.«
Wie um ihn daran zu erinnern, dass das nicht der Wahrheit entsprach, schien sich auf einmal etwas in dem Whiteboard zu spiegeln. Neben seinem eigenen Spiegelbild. Die dunklen Konturen gaben zu erkennen, dass jemand neben ihm stand, obwohl er genau wusste, dass er alleine im Raum war. Óðinn konnte seinen Blick nicht von der Tafel lösen. Dann wurde ihm klar, was er die ganze Zeit gesehen und gehört hatte. Es war Lára. Lára war hinter ihm her.
Zerstreut führte Óðinn das Telefonat zu Ende. Er bejahte oder verneinte, je nachdem, was Nanna seiner Meinung nach hören wollte. Er wollte weg aus dem Konferenzraum, wieder unter lebendige Menschen. Wurde er verrückt? Fühlte man sich dann so? Sobald sie das Gespräch beendet hatten, verließ er im Laufschritt das Zimmer und knallte unbeabsichtigt die Tür hinter sich zu. Alle schauten ihn an, als er zurück zu seinem Schreibtisch ging. Dort setzte er sich und starrte vor sich hin, heilfroh, dass sich in der matten Oberfläche seines Flatscreens nichts spiegeln konnte.
Er drehte durch. Zweifellos. Doch falls diese Halluzinationen tatsächlich real waren, warum sollte Lára ihn verfolgen? Was hatte er getan? Natürlich nichts. Nein, das konnte nicht die Erklärung sein. Ausgeschlossen. Er wurde verrückt und sollte sich besser sofort damit abfinden. Nur ärgerlich, dass er sich jetzt nicht mehr in den Besprechungsraum traute, um die Schrift auf der Tafel genauer zu studieren. Obwohl es ihn unter den Fingern juckte, herauszufinden, was die Zahlen bedeuteten.
18. Kapitel
Januar 1974
Normalerweise vermisste Aldís im Winter das helle Sommerlicht, aber jetzt war sie froh über den trüben, kurzen Tag. Die Vorhänge waren so schmal, dass man sie nicht ganz vors Fenster ziehen konnte, und an einem Sommertag wäre sie mit der grellwarmen Sonne im Gesicht aufgewacht und hätte ihre lichtempfindlichen Augen nicht öffnen können. Jetzt spürte sie, dass ihre Augen geschwollen waren, und als sie sich aufsetzte, fiel ihr eine verknotete Strähne aus ihren verfilzten Haaren auf die Nase. Es war ungerecht, zweimal am selben Tag verkatert und zerschlagen aufzuwachen, und das auch noch an seinem freien Tag, auf den man sich die ganze Woche gefreut hatte. Das gräuliche Licht, das durch die Vorhänge drang, wärmte nur leicht ihre Wange, obwohl es schon weit nach ein Uhr war. In diesem Zustand würde sie jedenfalls nicht in die Stadt fahren. Aldís stöhnte leise, blinzelte mehrmals und blieb schließlich eine ganze Weile mit geschlossenen Augen auf der Bettkante sitzen.
Von der Zimmertür zog sich eine Spur von Klamotten bis zu ihrem Bett, als hätte sie den Weg hinaus markieren wollen – wie eine betrunkene Gretel, die ihren Hänsel verloren hatte. In der Mitte, neben einem zerknitterten Pullover, lag die Schnapsflasche, die sie am Morgen geholt hatte. Als sich Aldís bewegte, schien die Flasche leicht hin- und herzurollen. Das grüne Glas erinnerte sie sofort an die nächtliche Sauferei, und für einen Moment wurde ihr wieder schlecht. Zum Glück verschwand die Übelkeit genauso schnell, wie sie gekommen war, wie der Nachhall eines Traums. Oder vielmehr eines Albtraums. Aldís stieg vorsichtig aus dem Bett und jammerte, als ihre nackten Fußsohlen den kalten Holzboden berührten. Sie gewöhnte sich schnell daran und tastete sich nackt zu der Kommode unter dem Fenster, um etwas zum Anziehen zu holen. Sie hatte keine Lust, die Sachen anzuziehen, die auf dem Fußboden lagen – die rochen bestimmt nach Alkohol und vielleicht auch nach Sex. Beides konnte sie in ihrem momentanen Zustand nicht ertragen.
Das Quietschen der Schublade ging ihr durch Mark und Bein und verstärkte ihre Gänsehaut. Sie nahm Unterwäsche, ein T-Shirt und Socken heraus, zog sich schnell an und suchte dann im Kleiderschrank nach einer sauberen Hose. Der Schrank hatte keine Aufhängestange, so dass die Kleidungsstücke auf einem kleinen, traurigen Häuflein in dem riesigen Kasten lagen. Als Aldís eine verschlissene Jeans anhatte, fühlte sie sich besser. Ihr war nicht mehr kalt, und sie konnte klarer denken. Doch obwohl Wärme durch ihre Adern strömte, wurde sie die Gänsehaut nicht los, solange ihr die Ereignisse der Nacht nachgingen.
Aldís hatte längst kapiert, dass
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