Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
benutzt worden war, seit er bei der Behörde arbeitete. Jedenfalls stand immer noch dasselbe Gekritzel darauf wie am Anfang.
»Ich beantworte Ihre Fragen, so gut ich kann«, sagte er.
Óðinn wusste nicht, ob er Nanna zufriedenstellen konnte. Er kannte seine Tochter zwar von Geburt an, war aber bis vor kurzem eher dem Namen nach ihr Vater gewesen.
»Wie ist Rúns Verhältnis zu ihrer Großmutter?«, fragte Nanna.
»Tja, sie besucht sie seltener, als ihre Großmutter es gerne hätte, aber das ist eigentlich meine Schuld. Ich müsste sie mehr drängen, aber sie hat einfach keine Lust dazu.«
»Das sollte eigentlich nicht nötig sein, das wissen Sie doch, oder? Wenn alles in Ordnung ist, sind Kinder in diesem Alter gerne mit ihren Großeltern zusammen.« Als Óðinn schwieg, redete sie weiter: »Ich habe darüber nachgedacht, ob das Verhältnis zwischen den beiden schon immer so distanziert war oder ob es etwas mit dem Tod von Rúns Mutter zu tun hat.«
»Ich wüsste nicht, auf welche Weise. Rúns Großmutter hatte nichts mit dem Tod meiner Exfrau zu tun.«
Óðinn wollte nicht weiter über das Thema sprechen. Die Sache war ganz einfach: Er wusste nicht, wie es früher gewesen war.
»Sie muss ja nicht direkt damit zu tun gehabt haben. Kinder wollen die Welt am liebsten einfach und klar haben. Rúns Mutter stirbt, und Rún braucht einen Schuldigen, gegen den sie ihre Wut richten kann. Ich will damit nicht sagen, dass sie jemanden für den Unfall verantwortlich macht, es reicht schon, dass ihn vielleicht jemand hätte verhindern können. Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihrer Großmutter diese Rolle zugewiesen hat. Sie wohnte ja direkt neben den beiden, und Rún könnte denken, dass ihre Großmutter vor Ort hätte sein müssen, um ihre Mutter zu retten. Etwas in der Richtung.«
»Konnten Sie mit den Zeichnungen, die ich Ihnen gegeben habe, etwas anfangen?«, fragte Óðinn, der auf einmal die Bilder im Kopf hatte, besonders das von Lára im Fall mit der Frau, die daneben stand und sie anstarrte. Vielleicht sollte das Rúns Oma sein.
»Leider sagen mir die noch nicht viel«, antwortete Nanna und schien nicht weiter darüber reden zu wollen. »Aber noch mal zu Rúns Großmutter. Ich würde das Verhältnis der beiden gerne näher beleuchten, das ist ein guter Einstieg für schwierigere Themen, mit denen wir uns später beschäftigen müssen. Was glauben Sie, warum Rún sie nicht treffen will?«
»Ich weiß es einfach nicht. Ich habe sie nie direkt danach gefragt. Aber natürlich habe ich auch gemerkt, dass sie nicht gerade begeistert von ihrer Oma ist. Ich habe nicht groß versucht, die Gründe dafür herauszufinden, könnte mir aber am ehesten vorstellen, dass Rún ihre Großmutter erdrückend findet. Sie ist das einzige Enkelkind der alten Dame, das spielt vielleicht auch mit hinein.«
»Das ist gut möglich.«
»Und jetzt? Soll ich nun öfter oder seltener mit ihr zu ihrer Oma gehen? Oder gar nicht mehr?«
»Machen Sie erst mal alles wie gehabt. Es ist noch viel zu früh, um zu sagen, was das Beste für Rún ist. Ich habe sie ja erst einmal getroffen.«
Óðinn fand Nannas Antwort ziemlich dürftig und musste sich selbst daran erinnern, dass Nanna ihn nicht kontaktiert hatte, um ihm einen Rat zu geben, sondern um Auskünfte von ihm zu bekommen. Es war kindischer Optimismus, ihre Mail so zu interpretieren, als würde Rúns Therapie schon großartige Fortschritte machen.
»Das ist mir klar. Meine dummen Fragen zeigen im Grunde nur, wie hilflos ich dem allen gegenüberstehe. Am liebsten hätte ich eine Anleitung von Ihnen, aber ich bin nicht so naiv zu glauben, dass es so etwas gibt. Fragen Sie mich einfach, was Sie wissen möchten, und überhören Sie den Rest«, sagte Óðinn und hatte das Gefühl, dass sie lächelte.
»Keine Sorge, ich bin einiges gewöhnt. Falls es Ihnen hilft, kann ich Ihnen nur sagen, dass es nach und nach besser mit Ihnen beiden laufen wird. Malen Sie nicht den Teufel an die Wand. Rún ist ein tüchtiges, liebes Mädchen, das einen schweren Schock erlitten hat, aber Kinder sind zäh. Viel zäher als Erwachsene.«
Na, herzlichen Glückwunsch. Óðinn las das verblichene Gekrakel auf dem Whiteboard, das niemand weggewischt hatte. Vielleicht hatte sich die Farbe ja schon unwiderruflich in die Oberfläche der Tafel gefressen. Es handelte sich um mehrere Daten, und Óðinn legte den Kopf schief. Kannte er die nicht alle? Sie schienen etwas mit dem Erziehungsheim zu tun zu haben,
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