Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Lilja und Veigar nicht wie andere Leute waren, aber warum sang Lilja mitten in der Nacht unter einem Baum Psalme und heulte wie ein Schlosshund? Aldís wäre vor Erleichterung fast zusammengesackt, als sie gemerkt hatte, um wen es sich handelte. Sie war sogar so leichtsinnig gewesen, aus dem Fenster zu schauen, nur um die vertraute Jacke der Hausherrin, die dort unter dem Baum stand, zu betrachten. Als Lilja endlich gegangen war, hatte Aldís Angst, die Alte würde wieder zurückkommen und sie könnte den Stall nicht verlassen, bevor Veigar am Morgen zum Melken käme.
Doch alles ging gut, und Aldís schaffte es sogar, auf dem Weg zum kleinen Haus noch schnell ihre Fußspuren zu verwischen. Liljas Spuren ignorierte sie, aber die befanden sich auch größtenteils hinter den Häusern, als wolle Lilja ihren nächtlichen Spaziergang verheimlichen. Zwei Frauen, die umherschlichen, in derselben Nacht, beide darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Aldís begriff nicht, was Lilja da machte. Die Spuren unter dem Fenster der Jungen mussten von ihr stammen. Was hatte sie da zu suchen?
Aldís zog die Vorhänge auf. Draußen fielen zarte Schneeflocken vom Himmel, wie Staub, als schüttele jemand auf dem Dach seine Wäsche aus. Sie sah drei Jungen auf das Hauptgebäude zugehen und kichern. Einar war auch dabei. Dann ging Hákon über den Hof. Er drehte ihr den Rücken zu, gekrümmt vom Gewicht des Werkzeugkoffers in seiner Hand. Ab und zu stieß er Rauch aus, hatte wie üblich eine Zigarette im Mundwinkel hängen. Kurz bevor er um die Ecke bog, ließ Aldís den Vorhang fallen und trat vom Fenster weg. Sie seufzte, als sie ihren Blick durch ihr armseliges Zimmer schweifen ließ. Das war also ihr freier Tag.
Im Flur war niemand, wie an einem Arbeitstag nicht anders zu erwarten. Nachdem sie sich die Zähne geputzt und den Alkoholgeschmack mit übelkeiterregender Pfefferminzzahnpasta aus dem Mund gespült hatte, wusch sie ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. Danach fühlte sie sich etwas besser, war nicht mehr leichenblass, sondern sah gesund und frisch aus – zumindest kurzzeitig. In zwei Wochen hatte sie wieder einen freien Tag, und den würde sie ganz bestimmt nicht vermasseln. Zur Bekräftigung schaute sie sich im Spiegel in die Augen und sagte laut zu sich selbst: »Nie mehr!« Beim nächsten Mal würde sie in die Stadt fahren und alles machen, worauf sie Lust hatte: Eis essen, den Laugavegur hinunterlaufen und Schaufenster angucken, dann wieder hinauflaufen und das kaufen, was sie am liebsten haben wollte. Und ihre Mutter anrufen. Oder auch nicht. Nachdem sie sich selbst eine Zeitlang angestarrt hatte, senkte sie den Blick, alles andere als überzeugt, dass man der Person im Spiegel zutrauen konnte, diese schönen Versprechungen einzuhalten.
Als die Haarbürste an den Knoten auf ihrem Kopf ziepte, verzog sie das Gesicht. In der Nacht war sie so leichtsinnig gewesen, ihre nassen Haare an der Luft trocknen zu lassen. Am Ende kam sie zwar einigermaßen durch, steckte ihr struppiges Haar dann aber lieber zu einem Knoten hoch.
Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem gestrigen Abendessen nichts mehr zu sich genommen hatte. Im kleinen Haus gab es wie üblich nichts Essbares, und Aldís ärgerte sich, nicht noch ein bisschen Schokolade von ihrem letzten Ausflug in die Stadt aufbewahrt zu haben. Sie hatte zwei Möglichkeiten: auszuharren und zu hungern oder sich eine Scheibe Brot oder Reste vom Mittagessen im Hauptgebäude zu holen. Nachmittagskaffee gab es erst um halb vier. Lilja würde ihn erst eine halbe Stunde vorher zubereiten, und wenn Aldís sofort losging, schaffte sie es vielleicht, ihr nicht zu begegnen. Ohne lange darüber nachzudenken, schlüpfte sie in ihre Jacke und ging raus.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, und die zarten Flocken, die immer noch vom Himmel fielen, blieben an ihren Wimpern hängen, so dass alles, was sie anschaute, glitzerte. Sie pustete die Schneeflocken weg, und alles wurde wieder wie vorher: trübe und alltäglich.
In der Küche war wie erwartet niemand. Deshalb wirkten alle Geräusche intensiver, und Aldís bedauerte es, nicht doch lieber auf die geschäftige Kaffeezeit gewartet zu haben. Automatisch musste sie an den Abend denken, als sie den Fremden bemerkt hatte, und hatte es dann noch eiliger, etwas Essbares zu finden und wieder rauszukommen. Sie wollte das Knarren und Knacken des Hauses nicht hören, und um all diese Geräusche auszuschalten, machte sie selbst
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