Seelen
fügte sogar mein eigenes unbeschwertes Lachen am Ende hinzu. Mein Verhalten war unehrlich, beschämend. Aber ich würde die Sucherin nicht spüren lassen, dass ich schwächer war als mein Wirt.
Ausnahmsweise reagierte Melanie nicht mit Triumph, obwohl sie mich ausgestochen hatte. Sie war zu erleichtert, zu dankbar, dass ich sie nicht verriet, wenn auch aus meinen eigenen niederen Beweggründen.
»Interessant«, murmelte die Sucherin. »Noch einer, der frei herumläuft.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind immer noch meilenweit vom Frieden entfernt.« Der Gedanke schien sie nicht weiter aufzuregen - im Gegenteil, er schien ihr zu gefallen.
Ich biss mir auf die Lippe. Melanie wollte unbedingt noch weitergehen und behaupten, der Junge sei nur Teil eines Traums gewesen. Du spinnst, erklärte ich ihr. Das wäre viel zu offensichtlich. Es sagte einiges über die unsympathische Art der Sucherin aus, dass es ihr gelang, Melanie und mich zu Verbündeten zu machen.
Ich hasse sie.
Ich weiß, ich weiß. Ich wünschte, ich hätte leugnen können, dass es mir genauso ging. Hass war ein absolut unverzeihliches Gefühl. Aber es war … sehr schwierig, die Sucherin zu mögen. Unmöglich.
Die Sucherin unterbrach das Gespräch in meinem Innern. »Außer dem neuen Ort, den wir überprüfen sollen, haben Sie also keine weiteren Hinweise im Zusammenhang mit der Landkarte?«
Ich spürte, wie mein Körper auf ihren vorwurfsvollen Unterton mit Widerwillen reagierte. »Ich habe nie behauptet, dass es sich um Linien auf einer Landkarte handelt. Das haben Sie angenommen. Und nein, ich habe sonst nichts Neues für Sie.«
Sie schnalzte dreimal schnell mit der Zunge. »Aber Sie haben gesagt, es wären Richtungsangaben.«
»Ich glaube , dass es Richtungsangaben sind. Mehr kriege ich nicht raus.«
»Warum nicht? Haben Sie den Menschen immer noch nicht unterworfen?« Sie lachte laut. Lachte mich aus.
Ich drehte ihr den Rücken zu und versuchte mich zu beruhigen. Ich tat so, als wäre sie gar nicht da. Als wäre ich ganz allein in meiner spartanischen Küche, während ich aus dem Fenster starrte und den kleinen Ausschnitt des Nachthimmels betrachtete, mit den drei hellen Sternen, die ich dort sehen konnte.
Zumindest so allein wie möglich.
Während ich die drei winzigen Lichtpunkte in der Dunkelheit fixierte, blitzten die Linien vor meinem inneren Auge auf, die ich immer wieder gesehen hatte - in meinen Träumen und in meinen lückenhaften Erinnerungen - und die mir immer wieder unerwartet in den verschiedensten Augenblicken in den Sinn kamen.
Die erste: eine langsame, unregelmäßige Biegung, dann eine scharfe Kurve nach Norden, wieder eine scharfe Kurve zurück in die andere Richtung, dann wieder ein längerer Ausläufer nach Norden, dann fiel sie wieder steil Richtung Süden ab, um plötzlich in einer weiteren sanften Biegung auszulaufen.
Die zweite: eine ausgefranste Zickzacklinie, vier enge Serpentinen, der fünfte Scheitelpunkt leicht stumpf, als wäre die Spitze abgebrochen …
Die dritte: eine sanfte Welle, die unvermittelt von einem Ausläufer unterbrochen wurde, der sich wie ein langer, dünner Finger nach Norden streckte.
Unverständlich, scheinbar bedeutungslos. Aber ich wusste, dass sie für Melanie wichtig waren. Ich hatte es von Anfang an gewusst. Sie hütete dieses Geheimnis hartnäckiger als alle anderen, genau wie den Jungen, ihren Bruder. Bis zu dem Traum letzte Nacht hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es ihn gab. Ich fragte mich, was sie dazu gebracht hatte, ihn preiszugeben. Vielleicht würde sie immer mehr ihrer Geheimnisse verraten, je lauter sie in meinem Kopf wurde …
Vielleicht würde sie einen Moment lang nicht aufpassen und ich könnte sehen, was diese seltsamen Linien bedeuteten. Ich wusste, dass sie etwas bedeuteten. Dass sie irgendwohin führten.
Und genau in diesem Augenblick, als das Gelächter der Sucherin noch in der Luft nachhallte, wurde mir plötzlich klar, warum sie so wichtig waren.
Sie führten natürlich zurück zu Jared. Zurück zu den beiden, zu Jared und Jamie. Wohin sonst? Welcher Ort könnte sonst irgendeine Bedeutung für sie haben? Aber erst jetzt erkannte ich, dass sie nicht wirklich zurück führten, denn keiner von ihnen war diesen Linien vorher je gefolgt. Linien, die für Melanie ebenso geheimnisvoll gewesen waren wie für mich, bis …
Die Mauer, die den Zugang blockierte, war diesmal langsam. Melanie war abgelenkt, achtete mehr auf die Sucherin als ich. Als Reaktion auf
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