Seelen
nur noch Schweigen.
Sein Schmerz bekümmerte mich nicht so wie Ians. Für Jared würde der Schmerz bald vorbei sein. Die Freude war nur Minuten entfernt. Das Happy End.
Der südliche Tunnel schien heute nur ein paar Meter lang zu sein. Viel zu schnell konnte ich die helle Lampe vor mir leuchten sehen und ich wusste, dass Doc auf mich wartete.
Mit hochgezogenen Schultern betrat ich den Raum, der mir immer schon Angst eingeflößt hatte. Doc hatte bereits alles vorbereitet. In der dämmrigsten Ecke konnte ich zwei zusammengeschobene Feldbetten sehen, auf denen Kyle mit einem Arm um Jodis reglose Gestalt schnarchte. Sein anderer Arm umschlang immer noch Sunnys Tiefkühlbehälter. Das hätte ihr gefallen. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihr das zu sagen.
»Hey, Doc«, flüsterte ich.
Er sah von dem Tisch auf, auf dem er die Medikamente aufreihte. Bereits jetzt liefen ihm die Tränen übers Gesicht.
Und plötzlich war ich mutig. Mein Herzschlag verlangsamte sich und wurde gleichmäßig. Meine Atmung vertiefte und entspannte sich. Das Schlimmste war überstanden.
Ich hatte das schon einmal gemacht. Schon oft. Ich hatte meine Augen geschlossen und war weggegangen. Ich hatte zwar immer gewusst, dass sich neue Augen öffnen würden, aber trotzdem. Es war mir vertraut. Nichts, wovor ich Angst haben musste.
Ich ging zum Feldbett und setzte mich darauf. Mit ruhigen Händen griff ich nach dem Schmerzlos und schraubte den Deckel ab. Ich legte mir das kleine Quadrat aus Seidenpapier auf die Zunge und ließ es sich auflösen.
Es veränderte sich nichts. Diesmal hatte ich keine Schmerzen. Keine körperlichen Schmerzen.
»Doc? Wie heißt du eigentlich wirklich?«
Ich wollte vor dem Ende noch all die kleinen Rätsel lösen.
Doc schniefte und wischte sich mit dem Handrücken unter den Augen entlang.
»Eustace. Das ist ein alter Familienname und meine Eltern waren grausame Menschen.«
Ich lachte auf. Dann seufzte ich. »Jared wartet vorne in der großen Höhle. Ich habe ihm versprochen, du würdest ihm Bescheid sagen, wenn es vorbei ist. Aber bitte warte, bis … bis ich … aufhöre, mich zu bewegen, okay? Dann wird es zu spät für ihn sein, um noch etwas dagegen unternehmen zu können.«
»Ich will das nicht tun, Wanda.«
»Ich weiß. Danke, Doc. Aber du hast es mir versprochen.«
»Bitte.«
»Nein. Du hast mir dein Wort gegeben. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Also erfüll du jetzt deinen. Lass mich bei Walt und Wes bleiben.«
Sein schmales Gesicht zuckte, als er versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Wird es … wehtun?«
»Nein, Doc«, log ich. »Ich werde nichts spüren.«
Ich wartete darauf, dass sich die Euphorie einstellte, darauf, dass das Schmerzlos alles zum Leuchten brachte wie beim letzten Mal. Ich spürte immer noch keine Veränderung.
Es war wahrscheinlich gar nicht das Schmerzlos gewesen, sondern einfach die Tatsache, geliebt zu werden. Ich seufzte erneut.
Dann legte ich mich bäuchlings auf das Feldbett und wandte ihm mein Gesicht zu.
»Betäub mich, Doc.«
Die Flasche wurde geöffnet. Ich hörte, wie er sie über dem Tuch in seiner Hand schüttelte.
»Du bist das großmütigste, reinste Wesen, das ich je getroffen habe. Das Universum wird ein dunklerer Ort sein ohne dich«, flüsterte er.
Dies waren seine Worte an meinem Grab, meine Grabinschrift, und ich war froh, dass ich sie zu hören bekam.
Danke, Wanda. Meine Schwester. Ich werde dich nie vergessen.
Sei glücklich, Mel. Freu dich an allem. Genieß es für mich.
Das werde ich, versprach sie.
Leb wohl, dachten wir gleichzeitig.
Docs Hand drückte mir sanft das Tuch vors Gesicht. Ich atmete tief ein und ignorierte den durchdringenden unangenehmen Geruch. Als ich erneut einatmete, sah ich wieder die drei Sterne. Sie riefen mich nicht, sie ließen mich gehen, überließen mich dem schwarzen Universum, das ich so viele Leben lang durchwandert hatte. Langsam glitt ich in die Schwärze und sie wurde heller und heller. Sie war überhaupt nicht mehr schwarz, sondern blau. Ein warmes, lebendiges, leuchtendes Blau … Ganz ohne Angst glitt ich hinein.
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A nmerkung zum Z usatzkapitel
D ährend ich mit den Produzenten an der Filmfassung von Seelen arbeitete, begann ich über die zusätzlichen Perspektiven nachzudenken, die vielleicht auf der Leinwand auftauchen würden, wo die Geschichte nicht mehr konsequent in der ersten Person
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