Seelen
Augen zu sehen, zu wissen, was das Leben ihm bringen wird, sogar unter den besten Umständen.
Jared ist plötzlich wieder Jared. Die Lachfältchen um seine Augen kehren zurück. »Außerdem haben wir noch unendlich viel Zeit, um … um darüber nachzudenken.« Ich habe den Verdacht, dass er schon wieder versucht, mich hinzuhalten. »Ist dir klar, wie wenig Zeit wir bisher zusammen verbracht haben? Es ist erst vier Wochen her, dass wir uns getroffen haben.«
Das haut mich um. »Unmöglich.«
»Neunundzwanzig Tage. Ich habe mitgezählt.«
Ich denke zurück. Es kann nicht sein, dass es erst neunundzwanzig Tage her ist, seit Jared unser Leben verändert hat. Es kommt mir so vor, als wären Jamie und ich schon genauso lange mit Jared zusammen, wie wir vorher alleine gewesen sind. Zwei oder drei Jahre vielleicht.
»Wir haben viel Zeit«, sagt Jared wieder.
Ein plötzlicher Anflug von Panik, wie eine ungute Vorahnung, macht es mir einen Moment lang unmöglich, etwas zu sagen. Er beobachtet die abrupte Veränderung in meinem Gesicht besorgt.
»Das weißt du doch gar nicht.« Die Verzweiflung, die seit der Begegnung mit ihm etwas nachgelassen hat, trifft mich wie ein Peitschenhieb. »Du kannst nicht wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. Du weißt nicht, ob wir sie am besten in Monaten, Tagen oder Stunden zählen sollten.«
Er lacht ein warmes Lachen und drückt seine Lippen auf die Falte, in der meine Augenbrauen zusammenstoßen. »Mach dir keine Sorgen, Mel. So ist das nicht mit Wundern. Ich werde dich nie verlieren. Ich werde dich nie fortlassen.«
Sie holte mich zurück in die Gegenwart - zum dünnen Band des Highways, der sich in der erbarmungslosen Mittagssonne durch die Ödnis Arizonas wand - ohne dass ich darum gebeten hatte. Ich starrte in die Leere vor mir und spürte die Leere in meinem Innern.
In meinem Kopf war ein schwaches Seufzen zu vernehmen: Du weißt nie, wie viel Zeit dir noch bleibt .
Die Tränen, die ich vergoss, waren von uns beiden.
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E ntdeckt
I ch fuhr zügig auf die I-10, als die Sonne hinter mir langsam zu sinken begann. Ich nahm nicht mehr viel wahr außer den weißen und gelben Linien auf dem Asphalt und den vereinzelten grünen Schildern, die mich weiter nach Osten wiesen. Jetzt hatte ich es eilig.
Weshalb, wusste ich allerdings gar nicht genau. Um hier herauszukommen, nahm ich an. Aus diesem Schmerz, aus der Verzweiflung, aus der Trauer um eine verlorene und hoffnungslose Liebe. Hieß das auch, aus diesem Körper? Mir fiel keine andere Lösung ein. Ich würde dem Heiler auf jeden Fall zuerst all meine Fragen stellen, aber ich hatte das Gefühl, als wäre der Entschluss bereits gefasst. Springer. Drückeberger. Ich sprach die Wörter in meinem Kopf vor mich hin und versuchte, mich damit anzufreunden.
Ich wollte versuchen zu verhindern, dass Melanie der Sucherin in die Hände fiel. Es würde sehr schwer werden. Wahrscheinlich sogar unmöglich.
Ich würde es trotzdem versuchen.
Ich versprach es ihr, aber sie hörte mir nicht zu. Sie träumte immer noch. Gab auf, nahm ich an - jetzt, wo es zu spät dafür war, sich helfen zu lassen.
Ich versuchte, mich von dem roten Canyon in ihrem Kopf fernzuhalten, aber ich war mit ihr dort. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, den Autos zuzusehen, die an mir vorbeizogen, den Raumschiffen, die auf das Raumfahrtzentrum zuhielten, den wenigen dünnen Wolken, die über mir dahinschwebten, es gelang mir nicht, mich gänzlich aus ihren Träumen zu befreien. Ich erinnerte mich an Jareds Gesicht aus tausend verschiedenen Blickwinkeln. Ich sah, wie Jamie in einem plötzlichen Wachstumsschub in die Höhe schoss, noch immer nur Haut und Knochen. Meine Arme schmerzten vor Sehnsucht nach den beiden - das Gefühl war stärker als Schmerz, messerscharf und gewaltig. Es war unerträglich. Ich musste hier raus.
Fast blind fuhr ich den schmalen zweispurigen Highway entlang. Die Wüste war hier sogar noch eintöniger und karger als vorher. Fader, farbloser. Ich würde lange vor dem Abendessen in Tucson eintreffen. Abendessen. Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und mein Magen knurrte, als ich daran dachte.
In Tucson würde mich die Sucherin erwarten. Mir drehte sich der Magen um, der Hunger wurde vorübergehend von Übelkeit verdrängt. Automatisch nahm ich den Fuß vom Gas.
Ich warf einen Blick auf die Karte, die auf dem Beifahrersitz lag. Bald würde ich eine kleine Raststätte in einem Ort namens Picacho Peak erreichen. Vielleicht würde ich
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