Seelen
führt. Mein eigenes lächelndes Gesicht, als wir sie dort ergreifen …
»Es reicht«, sagte ich laut und duckte mich vor dem Schmerz, der mich wie ein Peitschenhieb traf. »Es reicht! Du hast dein Ziel erreicht! Ich kann jetzt auch nicht mehr ohne sie leben. Macht dich das glücklich? Weil es mir nämlich nicht viele Alternativen lässt. Nur eine - dich loszuwerden. Willst du unbedingt die Sucherin in dir haben?« Ich zuckte vor dem Gedanken zurück, als wäre ich diejenige, die sie beherbergen müsste.
Es gibt noch eine andere Alternative, dachte Melanie sanft.
»Wirklich?«, fragte ich überaus sarkastisch. »Dann lass mal hören.«
Sieh genau hin.
Ich blickte immer noch den Berg an. Er dominierte die Umgebung, ein spitzer, aufwärtsdrängender Felsen, umgeben von flachem, strauchbewachsenem Land. Da sie so großes Interesse daran zeigte, folgte ich mit den Augen seiner Kontur und fuhr den unregelmäßigen, zweigipfligen Bergrücken entlang.
Eine langsame, unregelmäßige Biegung, dann eine scharfe Kurve nach Norden, wieder eine scharfe Kurve zurück in die andere Richtung, dann wieder ein längerer Ausläufer nach Norden, dann fiel sie wieder steil Richtung Süden ab, um plötzlich in einer weiteren sanften Biegung auszulaufen.
Nur, dass es nicht nach Norden oder Süden ging, so wie ich die Linien aus ihrer bruchstückhaften Erinnerung immer interpretiert hatte, sondern hinauf und hinunter.
Das Profil eines Bergrückens.
Die Linien, die zu Jared und Jamie führten. Das hier war die erste Linie, der Ausgangspunkt.
Ich konnte sie finden.
Wir können sie finden, korrigierte sie mich. Du kennst nicht alle Angaben. Ich habe dir nicht alles gezeigt, genau wie bei der Hütte.
»Ich verstehe das nicht. Wo führt das alles hin? Wie kann uns ein Berg irgendwo hinführen?«
Mein Puls beschleunigte sich, als mir klar wurde: Jared war in der Nähe. Jamie in meiner Reichweite.
Sie zeigte mir die Antwort.
»Das ist bloß Gekritzel. Und Onkel Jeb ist nichts weiter als ein alter Spinner. Durchgeknallt, wie alle in der Familie meines Vaters.« Ich versuche Jared das Album aus der Hand zu nehmen, aber er scheint es kaum zu bemerken.
»Durchgeknallt, so wie Sharons Mutter?«, kontert er, während er immer noch die dunklen Bleistiftlinien studiert, die die Rückseite des alten Fotoalbums verschandeln. Es ist das Einzige, das mir auf der Flucht nicht abhandengekommen ist. Und sogar die Zeichnung, die der verrückte Onkel Jeb bei seinem letzten Besuch darauf zurückgelassen hat, ist mir zu einer lieben Erinnerung geworden.
»Eins zu null für dich.« Wenn Sharon noch lebt, dann deshalb, weil ihre Mutter, die verrückte Tante Maggie, dem verrückten Onkel Jeb ohne Weiteres den Rang als die Verrückteste der verrückten Geschwister Stryder ablaufen könnte. Mein eigener Vater war nur leicht vom stryderschen Irrsinn infiziert gewesen. Er hatte keinen geheimen Bunker im Hinterhof oder so etwas. Die anderen, Tante Maggie, Onkel Jeb und Onkel Guy, waren überzeugte Verschwörungstheoretiker. Onkel Guy war gestorben, noch bevor die anderen im Zuge der Invasion verschwunden waren - bei einem so gewöhnlichen Autounfall, dass sogar Maggie und Jeb Schwierigkeiten hatten, eine Intrige drum herumzustricken.
Mein Vater hatte sie immer liebevoll ›die Irren‹ genannt. »Ich glaube, es wäre Zeit, mal wieder die Irren zu besuchen«, kündigte er gelegentlich an und dann stöhnte Mom auf - weshalb diese Ankündigungen nicht allzu häufig vorkamen.
Bei einem unserer seltenen Besuche in Chicago hatten Sharon und ich uns in das Geheimversteck ihrer Mutter geschlichen. Wir wurden erwischt - Tante Maggie hatte überall Fallen aufgestellt. Sharon wurde lautstark ausgeschimpft, und obwohl ich schwören musste, niemandem etwas davon zu erzählen, hatte ich das Gefühl, dass Tante Maggie sich irgendwo einen neuen Unterschlupf bauen würde.
Aber ich weiß noch, wo der erste ist. Ich stelle mir vor, dass Sharon jetzt dort lebt wie Anne Frank, mitten in einer feindlichen Stadt. Wir müssen sie finden und nach Hause holen.
Jared unterbricht meine Erinnerungen. »Die Spinner sind genau die, die überlebt haben. Leute, die überall Big Brother vermuteten, obwohl er gar nicht da war. Leute, die den Rest der Menschheit misstrauisch beäugten, schon bevor der Rest der Menschheit gefährlich wurde. Leute mit bereitstehenden Verstecken.« Jared grinst, während er weiter die Linien betrachtet. Dann wird er ernst. »Leute wie mein Vater. Wenn er
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