Seelenangst
Magen sich zusammenzog, als er in die schwarzen Brillengläser blickte.
Der Mann kam mit langsamen Schritten auf ihn zu, in der Hand ein dickes Buch mit schwarzem Ledereinband. Es war das Grand Grimoire, wie Voss erkannte, eines der Hauptwerke der schwarzen Magie.
»Vielleicht«, sagte der Mann und legte das Buch auf den Ladentisch. »Was kostet dieses Exemplar?«
Voss dachte rasch nach. Je höher der Preis, desto eher wurde er diesen unheimlichen Typen vielleicht los. »Fünfhundert Euro«, sagte er. »Das ist ein Original aus dem neunzehnten Jahrhundert.«
Der Mann nickte, wobei er Voss aus seinen schwarzen Gläsern anstarrte. Dann zog er ein Bündel Banknoten aus der Innentasche seines Ledermantels, zählte fünf Hunderter ab und legte sie auf den Tresen.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Voss und legte die Scheine unter einen Scanner. Sie waren echt.
»Ich brauche noch eine Information«, sagte der Mann. »Das hier«, er tippte auf das Buch, »ist die deutsche Ausgabe des Grand Grimoire. Haben Sie die französische Ausgabe? Den Urtext?«
»Die Ausgabe von 1522? Die gilt als verschollen.«
»Es gibt einen Hinweis in der französischen Ausgabe von 1775 aus Paris. Man muss einen Kreis bilden für die Beschwörung, einen Kreis aus der in Streifen geschnittenen Haut einer jungen Ziege, mit Nägeln am Boden befestigt, die aus dem Sarg eines Kindes stammen.« Der Mann sog die Luft ein. »Das Opfer an Lucifuge Rofocale, den Premierminister der Hölle. Durch das Ritual erhält man seine Zustimmung, die Toten zu befragen.«
Voss schaute den Fremden unbehaglich an. Hatte er es wieder mit einem dieser Irren zu tun, die sich so intensiv mit der Materie befassten, dass sie den größten Unsinn für bare Münze nahmen? Der Fremde klang so, als wollte er das verrückte Ritual wirklich und wahrhaftig vollziehen.
»In dem alten Ritual«, fuhr der Mann fort, »werden allerdings keine Ziegenhäute als Opfer verwendet, sondern Neugeborene.«
»Neugeborene?«, fragte Voss.
»Ja«, sagte der Fremde. »Sie eignen sich am besten zur Beschwörung der Toten, denn sie sind gerade erst aus der Welt jenseits des Tores gekommen. Das Tor, durch das wir alle wieder hinausgehen werden.«
Voss schluckte. Offenbar hatte er es hier mit einem besonders schweren Fall zu tun.
Der Mann schlug das Buch auf und drehte es zu Voss um. »Hier«, sagte er. Sein Finger bewegte sich über den Text. Voss las den Absatz mit.
Ich verspreche Dir, zu Dir zu kommen, wann immer ich gerufen werde. Wenn du die Rute in der Hand hältst, öffne das Buch und sprich das Wort »Rofocale«. Gebe mir dafür Dein Leben lang jeweils am ersten Tag des Monats eine Münze. Tust Du das nicht, so wirst Du mir gehören.
»Und?«, fragte Voss, wobei er unauffällig nach draußen schaute in der Hoffnung, dass ein weiterer Kunde kam. Aber es kam keiner.
»Es fehlt etwas«, sagte der Mann. »Es gibt einen Weg, nicht nur die Toten zu befragen, sondern ihre Seelen auf der Welt zu halten. Das Lebenslicht. Man kann das Bindeglied zerbrechen, sodass es eine Zeit lang weiterflackert, auch wenn der Körper bereits tot ist.« Der Mann trat näher an Voss heran, der zurückwich und beinahe sehnsuchtsvoll zur Tür schaute. »Im Original von 1522 wird das zweite Ritual beschrieben. Das Ritual, das hier fehlt.« Der Mann klopfte aggressiv mit den Fingern auf das Buch. »Dort ist zu lesen, wie man die sechstausend Stufen herabsteigt und das Bindeglied zerbricht.« Noch ein Schritt nach vorne. »Beschaffen Sie mir dieses Buch.«
Voss schüttelte den Kopf und lockerte seinen Hemdkragen. »Das kann ich nicht. Ich sagte doch, es ist verschollen. Seit dem ersten Weltkrieg.«
»Nichts ist verschollen«, sagte der Mann. Voss sah sein eigenes verzerrtes Gesicht, das sich im Schwarz der Brille spiegelte. »Auch die Toten sind nicht tot.«
Mit zitternden Fingern wickelte Voss das schwarze Buch ein und reichte es dem Mann, der es mit klauenhaft ausgestreckten Händen entgegennahm. Dann bewegte sich mit ruckartigen Schritten zum Ausgang. Mit einem Mal hob er die Nase, als würde er etwas riechen oder auf andere Weise wahrnehmen. Er drehte sich um und kam zu Voss zurück. »Sie haben es doch hier«, sagte er. »Ich kann es spüren.«
Voss wich zurück.
»Verkaufen Sie es mir. Ich zahle jeden Preis.«
Voss standen Schweißperlen auf der Stirn. Sollte er das Buch verkaufen? Wenn er einen ausreichend hohen Preis nannte, könnte es das Geschäft des Jahres für ihn
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