Seelenangst
seinen Körper gebohrt hatte.
Fast wie bei CSI, dachte Clara. Aber nur fast.
Dr. von Weinstein stand mit ihr und Winterfeld vor dem metallenen Seziertisch, auf dem Gayo lag. Von Weinstein hielt die Ermittlungsakte in der Hand und tippte mit einem Metallstab auf den Oberkörper der Leiche, während er sprach. Clara hatte sich oft gewünscht, dass er diese Angewohnheit ablegte, da sie es als pietätlos empfand, aber Menschen ab Mitte zwanzig konnte man bekanntlich nicht mehr groß ändern, und von Weinstein war Mitte vierzig.
»Das war einer der schlimmsten Morde, die ich je gesehen habe«, sagte er soeben. »Aber was dann folgte, macht es fast noch schlimmer.«
Clara hob verwundert die Brauen. Es kam selten vor, dass von Weinstein irgendetwas dramatisierte.
»Im Klartext?«, fragte Winterfeld und blätterte in der Kopie des Ermittlungsberichts. Clara wusste, dass ihm von Weinsteins umständliche Art häufig auf die Nerven ging – möglicherweise deshalb, weil auch er selbst nicht immer gleich zur Sache kam, sondern staatsmännische Vorträge über alles Mögliche hielt, bevor er zum Thema kam. Und die eigenen Fehler stören einen bei anderen nun mal am meisten.
Von Weinstein zog sich mit einem schnappenden Geräusch einen der beigen Gummihandschuhe aus und ließ ihn in einen Plastikeimer fallen. »Zunächst einmal war es dem Killer wichtig, dass sein Opfer alles mitbekommt von dem, was er mit ihm macht. Deshalb hat er ihn betäubt.«
»Betäubt?«, fragte Clara. »Ich dachte, er würde sich an seinem Schmerz weiden. Für mich scheint es in erster Linie ein ritueller, in zweiter Linie ein sadistisch motivierter Mord zu sein.«
Von Weinstein nickte gequält. »Der Typ ist mit Sicherheit ein Sadist. Wenn auch ein eher … sagen wir, metaphysischer.«
Winterfeld zog die Augenbrauen zusammen. »Was meinen Sie damit schon wieder? Jetzt sagen Sie nicht, er ist ein Philosoph?«
»Metaphysik«, dozierte von Weinstein und tippte wieder mit dem Metallstab auf die Leiche Gayos, »ist die Welt jenseits der Physik, jenseits des Körperlichen. Der Geist ist das, was bleibt, wenn dieses hier«, er zeigte auf die Überreste Franco Gayos, »verschwunden ist. Jedenfalls glauben oder hoffen wir das.«
»Und?«
»Es hat dem Täter nicht gereicht, Gayos Körper zu foltern und zu schänden. Das hat ihm offenbar keine Befriedigung verschafft.«
»Sondern?«
»Seinen Geist, seine Seele zu zerreißen. Hier.«
Er hielt Winterfeld und Clara das Protokoll der Sektion hin. Unter dem Abschnitt über die Öffnung der Schädelhöhle und der Untersuchung des Gehirns war ein erster Screeningbericht der Kollegen aus der Toxikologie, die sich mit Giften und Narkotika befassten.
»Mepivacainhydrochlorid«, las Winterfeld.
Clara zog die Augenbrauen zusammen. »Ist das nicht ein Betäubungsmittel?«
Von Weinstein nickte. »Ein Lokalanästhetikum, um genau zu sein. Es wird besonders bei Kaiserschnitten oder ambulanten Operationen benutzt. Es bewirkt die temporäre Funktionshemmung ausgewählter Nervensegmente und wird normalerweise in den Rückenmarkskanal gespritzt, entweder als Spinal- oder Epiduralanästhesie.«
»Aber warum hat der Täter Gayo betäubt?«, fragte Clara.
»Damit er nichts mitkriegt«, antwortete von Weinstein, »oder alles mitkriegt. Der Betäubung wegen konnte Gayo nicht bewusstlos werden. Der Täter musste ihn nicht ständig mit Ammoniak wieder aufwecken, wie es in einigen Foltergefängnissen in Ägypten oder sonst wo praktiziert wird.« Er zupfte an dem zweiten Handschuh, den er noch angezogen hatte. »Er war hellwach und musste das Grauen die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein mit ansehen. Wie das Schwert in seinen Körper eindrang, wie es sich durch sein Inneres bohrte, wie sich die Haut darüber wölbte, wie die Organe auseinandergeschnitten wurden, die Arterien sich öffneten, das Blut sich in der Bauch- und Brusthöhle verteilte, bis die Klinge die Lunge erreichte, das Herz, den Kehlkopf. Dann erst war es endlich vorbei.«
»Das heißt, er hat gemerkt , was der Täter mit ihm macht?«, fragte Clara entsetzt. »Trotz der Betäubung?«
Von Weinstein nickte.
»Mein Gott …«, flüsterte Winterfeld.
»Und da ist noch etwas«, sagte von Weinstein. »Die Spurensicherung hat sich bei mir gemeldet, vor etwa einer halben Stunde. In einem der Schränke in Gayos Büro haben die Kriminaltechniker ein Laptop gefunden, daneben eine Web-Kamera mit einem Stativ und ein paar Kabel.«
Clara wurde blass. »Er hat doch wohl
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