Seelenangst
achtzehn gewesen, als sie ihre damals zehnjährige Schwester Claudia zum letzten Mal gesehen hatte. Vor mehr als zwanzig Jahren war Claudia von einem geistesgestörten Kinderschänder entführt worden, der eine Vorliebe für Lötkolben, Kneifzangen und das Schreien junger Mädchen hatte.
Kein Vater sollte seine Tochter begraben müssen, sagte man. Und keine ältere Schwester ihre jüngere , fügte Clara in Gedanken hinzu. Aber genau das war geschehen. An diesem Tag hatte Clara sich geschworen, es besser zu machen als die Versager damals, die Polizeibeamten, die Claudia nicht hatten retten können. Sie hatten nicht einmal das Scheusal gefasst, das Claudia getötet hatte.
Damals hatte Clara beschlossen, Polizistin zu werden und anderen zu helfen, wenn sie schon sich selbst nicht helfen konnte. Zielstrebig hatte sie ihren Weg gemacht, bis ins LKA, um Bestien zu jagen wie den Mörder ihrer Schwester. Und nachts noch etwas Zeit zum Schlafen zu haben.
Und in dieser Zeit auch schlafen zu können.
2
Es war schon fast dunkel an diesem Freitagnachmittag in Berlin, und die letzten Strahlen der Wintersonne fielen schräg durch die drei Meter hohen Fenster in das rundum verglaste Büro. Franco Gayo sammelte seine Unterlagen zusammen, um sie in seinem Aktenkoffer verschwinden zu lassen. Dann ging er zum Fenster, blickte auf die Friedrichstraße, die Hochhäuser des Potsdamer Platzes in einiger Entfernung und auf die beiden Fernsehtürme, den im Westen am ICC-Kongresszentrum und den im Osten am Alexanderplatz, die das Panorama wie zwei Bühnenpfosten umrahmten.
Er ging zurück zum Schreibtisch. Die Ledersohlen seiner rahmengenähten Budapester pochten leise auf dem makellos sauberen Parkettboden. Sein Anzug war teuer und roch nach Macht, für den Preis seiner Uhr kauften andere sich Autos, und in seinem Adressbuch stand so ziemlich jeder, der Geld und Einfluss besaß – vorzugsweise beides.
Er würde gleich noch ein rasches Telefonat erledigen müssen, und dann ging es ins Wochenende. Er brauchte diese Atempause. Am nächsten Freitagabend stand der Auftritt in einer Spendengala auf dem Programm. Am Samstagabend war er bei der größten Show im deutschen Fernsehen zu Gast. Am Sonntag dann die Eröffnung eines Benefizkonzerts der Berliner Philharmoniker.
Da seine Sekretärin heute überraschend krank geworden war, suchte Gayo selbst in seinem Outlook nach der Nummer, während allmählich die Dunkelheit dieses Februartages in die Winkel und Ecken des riesigen Büros nahe dem Quartier 101 kroch.
Franco Gayo mochte große, luftige Räume. Damals, als Partner bei der internationalen Anwaltskanzlei Archer & Sullivan, war es nicht anders gewesen. Jetzt, mit seiner Stiftung, mit der er den Ärmsten der Armen helfen wollte, musste es ebenso sein. Viel Einsatz, viel Hilfe, viel Geld. Bigger is better. Gayo selbst hatte nur ein einziges Mal in einem kleinen Verschlag gewohnt, in der Studentenunterkunft an der Harvard Law School.
Er arbeitete nicht mehr als Anwalt, aber was er in Harvard und besonders in der Kanzlei gelernt hatte, half ihm jetzt genauso, vielleicht noch mehr. Do ut des hieß sein gemeinnütziger Verein. Ich gebe, damit du gibst.
Haiti war das neue Betätigungsfeld der Organisation. Offenbar bereitete es dem Schicksal eine perverse Freude, immer jene Menschen am härtesten zu treffen, die ohnehin nichts besaßen. Das Erdbeben der Stärke sieben, von dem Haiti am 12. Januar 2010 um 21.53 Uhr Ortszeit heimgesucht worden war, hatte die Insel in eine Hölle aus Tod und Zerstörung, Krankheit und Hunger verwandelt. Eine volle Minute lang hatten die karibische und die nordamerikanische Platte sich gegeneinander geschoben, wobei das Epizentrum nur 25 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince lag.
Das Beben hatte gezeigt, dass Gott nicht nur das Messer in die Wunde bohrt, sondern manchmal auch die Klinge abbricht. Es war das stärkste Beben in Nordamerika gewesen und bis zu diesem Tag das weltweit stärkste Beben im 21. Jahrhundert überhaupt, schlimmer noch als das Seebeben in Thailand im Dezember 2004, das den Tsunami ausgelöst hatte. Fast eine halbe Million Todesopfer, zwei Millionen Obdachlose, Terror, Anarchie und Plünderungen waren auf Haiti die Folgen gewesen. Der Schaden von etwa acht Milliarden Dollar hatte auch das letzte bisschen Infrastruktur vernichtet, das noch vorhanden gewesen war.
Präsident René Préval hatte vor seinem zerstörten Palast gestanden und in die Mikrofone der Reporter
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