Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
Vom Netzwerk:
rauchte. Also rauchte Winterfeld jetzt nur noch am Wochenende, aber nach wie vor auf Lunge.
    »Ah, Señora Vidalis«, sagte er nun, als er Clara am Fenster stehen sah. Man hatte immer gute Chancen, mit Winterfeld zu sprechen, wenn man sich nur an ein Fenster stellte, idealerweise im dritten Stock nahe der Kaffeeküche. »Rauchen Sie eigentlich noch, oder sind Sie mal wieder dabei, es sich abzugewöhnen?«
    Clara lächelte. »Derzeit gewöhne ich’s mir mal wieder ab.«
    »Tüchtig!«, sagte Winterfeld und öffnete feierlich das Fenster wie ein Renaissancekönig, der dem Volk seinen neugeborenen Sohn zeigen will. »Wie ist es gelaufen?«
    »Katastrophal. Hat eine Ewigkeit gedauert. Beide haben gelogen, dass sich die Balken bogen.«
    Winterfeld schaute in den schmutzig grauen Himmel wie der Steuermann am Ruder eines Schiffes.
    »Wussten Sie, dass wir in Berlin von Leichen umgeben sind?«, fragte er, ohne Clara anzuschauen. Das war auch eine seiner Marotten, unvermittelt das Thema zu wechseln. Er schaute nach unten, wohin er früher immer die Asche hatte fallen lassen und wo aufgrund der schieren Aschemenge, die hier heruntergebröselt war, eigentlich der fruchtbarste Boden ganz Berlins sein musste. Vielleicht sollte man dort mal Wein anbauen , dachte Clara. Château Criminel.
    »In jeder Stadt, die mehr als ein paar Hundert Jahre alt ist, ist der Boden voll mit Leichen«, philosophierte Winterfeld weiter. »Doch im Fall Berlins kommt ein Ereignis hinzu, das die Anzahl der Toten signifikant erhöht.«
    »Sie meinen die Schlacht um Berlin 1945?«
    Winterfeld nickte. »Ich habe vorhin mit einem Freund telefoniert, der hier für den Denkmalschutz zuständig ist. Ausgrabungen, bevor das Schloss gebaut wird und so weiter.« Er atmete die kalte Regenluft ein. »Ständig finden die irgendwelche Knochen und Schädel. Als im April 1945 der Fall Clausewitz ausgerufen und Berlin Frontstadt wurde, gab es allein in der letzten Woche vor der Kapitulation mehr als 20 000 Tote. Wenn man von einer Fläche Berlins von 890 Quadratkilometern ausgeht, sind das pro Quadratkilometer mehr als zwanzig Tote.« Jetzt blickte er Clara an. »Das heißt, wenn Sie nur hundert Meter laufen, begegnen sie auf jeden Fall einer Leiche. Und das sind nur die aus der letzten Woche des Krieges.« Er kniff die Augen zusammen. »Und da sich die Schlacht besonders auf die Mitte Berlins konzentriert hat, finden Sie hier wahrscheinlich noch viel mehr.« Er blickte in den Winterhimmel. »Ist das nicht eine interessante Vorstellung? Jeder Berliner geht buchstäblich über Leichen.«
    Wider Willen musste Clara lachen.
    »Und da wir die Toten in der Regel nicht aufwecken können, graben wir sie aus«, fuhr Winterfeld fort. »Dummerweise gefällt das unseren Politikern nicht, denn jede Leiche, die wir ans Licht holen, macht ihre heile Welt ein bisschen mehr kaputt.«
    »So wie dieser Dr. Mertens auf der Pressekonferenz mit dem Namenlosen?«, fragte Clara. Sie musste an die hohlen Worte eines Abteilungsleiters der Senatskanzlei für Inneres denken, als er Clara und das Team um Winterfeld dafür gelobt hatte, den Facebook-Ripper aus dem Verkehr gezogen zu haben. Doch aufrichtig gefreut hatte der Mann sich erkennbar nicht. Lieber tausend Morde, von denen keiner weiß, als zehn Morde, die aufgeklärt werden. Der feuchte Händedruck des Mannes hatte Clara dann auch an die unschönen Zeiten zu Beginn ihrer Karriere erinnert, als sie im Drogendezernat gearbeitet hatte und in den Toiletten irgendwelcher Junkie-Wohnungen mit Gummihandschuhen nach versteckten Kondomen voll Heroin suchen musste.
    »Genau wie Mertens, ja«, sagte Winterfeld. »Sie schütteln uns die Hand, sofern die Marionettenfäden es zulassen, aber im Grunde hassen sie uns, denn wir sind die Überbringer der schlechten Nachrichten.« Er blickte Clara an. »Sie wissen, was im Mittelalter mit den Überbringern schlechter Nachrichten geschah?«
    »Sie wurden getötet.«
    Winterfeld nickte. »Dumm nur, dass die schlechte Nachricht dadurch nicht besser wird. Ermittlungsarbeit ist eine langfristige Sache. Die passt nicht zur Quartalslogik und dem Fünfjahresdenken der Politiker. Die denken von hier bis zur eigenen Nasenspitze, und viele von denen haben sehr platte Nasen.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Wir können nicht auf Befehl Erfolge vorweisen. Wir können nicht so tun, als wäre nichts passiert. Und das Schlimmste ist: Wir können das Grauen nicht aufhalten, wenn es kommt. Und wir können niemanden

Weitere Kostenlose Bücher