Seelenangst
Wieder würden zwei Täter ins Gefängnis gehen, ihre Strafe absitzen, irgendwann wieder freikommen und vielleicht genauso weitermachen wie zuvor. Oder schlimmer.
Ad plures ire. Zu den vielen gehen. Zu den Toten.
Clara blickte zum Himmel. Würde die riesige Welt der Toten dadurch kleiner werden? Sie sah all die Schatten vor sich, denen es nicht erlaubt gewesen war, weiterzuexistieren. Was wäre aus all den Männern und Frauen geworden, hätten sie weitergelebt? Und was wäre vor allem aus den Kindern geworden? Kinder, die in einem kleinen Sarg bestattet wurden und vom Antlitz der Welt gefegt worden waren, als hätten sie nie existiert? Die nur in den Erinnerungen weiterlebten und immer mehr verblassten, je stärker die Zeit die Wunden zudeckte, aber niemals ganz heilte? Was hätten all diese Menschen werden können? Was hätten sie bewirken oder erfinden können? Sie sah all die Namen vor sich in einer nahen Zukunft – Ärzte, Erfinder, Unternehmer. Es waren Namen, die kurz aufblitzten, um dann von einer nuklearen Druckwelle hinweggefegt zu werden, die zu Eis erstarrten und sich dann in Staub auflösten. Namen, die etwas hätten werden können, die aber nichts werden durften. Namen, deren Träger jetzt einen Meter achtzig unter der Erde lagen oder sich in einem Krematorium zu grauer Asche verwandelt hatten, während ihre Mörder im Gefängnis die Zeit absaßen, freikamen und weitermachten.
»Mein Sohn ist für alle Zeiten tot«, hatte eine Mutter einmal zu Clara gesagt, »aber andere Kinder leben noch.« Die Frage war, wie lange.
Half es, wenn sie einen oder zwei der Mörder einbuchtete? Half es den Angehörigen oder den Eltern, die vor Verzweiflung fast wahnsinnig wurden? Oder den Toten selbst? Würden die Ermordeten und Erschlagenen, die in ihren Träumen auftauchten und ihr mit bleichen Gesichtern und blutumrandeten Augen entgegentaumelten, dadurch ihren Frieden finden? Oder sie?
*
Der Inkubus und die beiden Vergewaltiger waren beinahe harmlos im Vergleich zu den Fällen, die Clara und ihre Abteilung im LKA in den Wochen zuvor in Atem gehalten hatten.
Denn bei den letzten beiden wirklich harten Fällen, mit denen Clara sich befassen musste, hatte es keine Verhöre gegeben. Einen Täter hatte sie erschossen, der andere hatte sich selbst in die Luft gesprengt. Und Clara und ihre Kollegen waren dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.
Es war im Oktober des Vorjahres gewesen. Sie hatten Bernhard Trebcken gejagt, den »Werwolf«, einen grausamen Vergewaltiger, der die Frauen nicht nur missbrauchte, nicht nur tötete, sondern die Leichen vor und nach der Vergewaltigung in psychotischer Raserei zerhackte. Clara und die Beamten des MEK hatten Trebcken in der Wohnung seiner letzten beiden Opfer erwischt, einem lesbischen Paar. Dass zwei Frauen sich miteinander vergnügten, während er selbst leer ausging, hatte Trebcken auf schreckliche Weise ausrasten lassen. Er hatte eine der Frauen vor den Augen der anderen vergewaltigt, getötet und dann mit einer Axt zerhackt.
Clara hatte dem abgrundtief Bösen ins Auge geschaut, als Trebcken die Überlebende als Geisel an sich gedrückt hatte, mit einer Geflügelsäge am Hals. Clara hatte die Heckler & Koch auf Trebckens Stirn gerichtet. Sie hatte die Waffe einem der MEK-Beamten abgenommen, nachdem Trebcken ihm die Nase gebrochen und ihm beinahe den Kehlkopf zerschmettert hatte.
Was passiert, wenn ich nicht schieße? , hatte Clara sich gefragt. Lässt er die Frau dann frei?
Unwahrscheinlich. Er würde ihr über kurz oder lang die Halsschlagader durchsägen und dann, als selbsternannter Märtyrer, im Kugelhagel der Polizei sterben. Also hatte Clara abgedrückt. Weil sie wusste, dass es manchmal nur die Wahl zwischen schlechten und sehr schlechten Entscheidungen gab. Weil sie wusste, dass es manchmal besser war, das Falsche zu tun als gar nichts. Und weil sie wusste, dass Hochgeschwindigkeitsprojektile schneller sind als Nervenimpulse.
In dem Sekundenbruchteil, als der Werwolf seiner Geisel den Hals durchsägen wollte, hatte die Kugel seinen Kopf in eine blutige Ruine verwandelt, deren eine Hälfte noch auf dem Rumpf steckte, während die andere sich über fünf Quadratmeter weißer Wand und einem Kunstdruck von Jackson Pollock verteilt hatte.
Die Augen des Bösen. Clara hatte sie wieder einmal gesehen. Und sie hatte Bernhard Trebcken, als sie abdrückte, ein Einmalticket direkt in die Hölle verschafft.
Der zweite Fall, der das LKA nur anderthalb Wochen später in
Weitere Kostenlose Bücher