Seelenangst
Alarmbereitschaft versetzt hatte, war weit schwieriger gewesen. Denn der Killer, der sich »Der Namenlose« nannte, war keine wild gewordene Kettensäge wie Bernhard Trebcken, sondern ein eiskalt gesteuertes Projektil, das leise und gezielt direkt ins Nervensystem traf. Der Namenlose, der in den Medien bald auch »Facebook-Ripper« genannt wurde, hatte eine Vorliebe für schöne junge Mädchen, die er mit falscher Identität über Social-Network-Plattformen und Dating-Webseiten kontaktierte, ihre Adresse herausfand, sie aufsuchte und umbrachte.
Clara und den Facebook-Ripper hatte ein dunkles Geheimnis geeint. Und es war dieses Geheimnis gewesen, das der Killer genüsslich und sadistisch vor Clara enthüllt hatte, ehe er gestorben war.
Clara war froh und dankbar, dass es manchmal Phasen der Ruhe gab. Und Kollegen, auf die man sich verlassen konnte. Die einen nicht hängen ließen. Die einem im Haifischbecken der Bürokratie den Rücken freihielten.
Sie hörte schwere, vertraute Schritte, die näher kamen. Es war einer der Kollegen, ohne die Clara nicht wäre, wo sie nun war. Und vor allem, nicht dort geblieben wäre.
Die große Gestalt, die langen Schritte, das dumpfe Pochen der Hacken, die Adlernase zwischen den stahlblauen Augen und die große Hand, die soeben die Krawatte lockerte, gehörten Kriminaldirektor Walter Winterfeld, Claras direktem Vorgesetzten und Chef der Mordkommission des LKA. Clara war Winterfeld damals aufgefallen, als sie sich auf Forensik und Pathopsychologie spezialisierte, und er hatte sie unter seine Fittiche genommen. »Die schlimmsten Verbrecher laufen hier drinnen herum«, hatte er gesagt und damit nicht das LKA gemeint, sondern vor allem die Justiz und ihren Beamtenapparat. »Also sehen Sie zu, dass Sie gleich an den Richtigen geraten, dann haben wir beide mehr davon.«
»Und Sie sind der Richtige?«, hatte Clara in naiver Direktheit gefragt.
»Nein. Aber auch nicht der Falsche. Und das ist hier mehr als genug.«
Bei Winterfeld war das kein leeres Gerede. Er lebte für seinen Job. War nach zwei Ehen geschieden. Nach einer schweren privaten Krise hatte er mehrere üble Gewaltverbrecher und Mörder hinter Gitter gebracht. Gleich nach deren Verhaftung hatte er – damals noch in Hamburg – seine Theorie von der »Präventiven Physiognomie des Verbrechens« aufgestellt, die besagte, dass man allein am Gesicht einer Person erkennen könne, ob sie ein Verbrecher sei oder nicht.
Die Presse war sofort über ihn hergefallen. Eine Hamburger Lokalzeitung zeigte eine Fotomontage mit dem Gesicht Winterfelds und der Uniform Heinrich Himmlers.
Doch seine Aufklärungsquote sprach für ihn. Und das Buch, das er dann schrieb, wurde ein Bestseller. Er hielt Vorträge bei Scotland Yard, in Quantico, Virginia, bei Interpol und an sämtlichen Landeskriminalämtern Deutschlands. »Sichten und vernichten« lautete sein Wahlspruch. Wenn Winterfeld hinter einem Mörder her war, blieb der meist nicht mehr lange in Freiheit.
Dann kam das Angebot vom Innenministerium, eine Abteilung aufzubauen, die die Bekämpfung von Kapitalverbrechen auf deutscher und europäischer Ebene koordinieren sollte. Doch Winterfeld erkannte rasch, dass das nicht sein Ding war, denn es bedeutete Ränkespiele und Rotweinschwenken. Außerdem musste er korrupten Politikern in den Hintern kriechen, die sich ihr Bild von einer heilen und wählerfreundlichen Welt aus wahltaktischen Gründen nicht kaputtmachen lassen wollten.
In Berlin geblieben war er dann aber doch. Das LKA hatte ihm das Angebot gemacht, Chef der Mordkommission zu werden. Und das war dann sein Ding. »Ich muss im Endkundengeschäft bleiben«, hatte er Clara einmal anvertraut. »Es waren die Mörder, die mir die Energie gegeben haben, die Schlammschlacht um die Scheidung zu vergessen und mich wieder auf das zu konzentrieren, was wichtig ist. Ein wenig muss ich ihnen sogar dankbar sein.« Für Winterfeld waren die Täter die Kunden, nicht die Opfer. »Am Ende wissen diese Scheusale, dass sie letztendlich in den Knast oder auf den Friedhof gehören. Und als Dienstleister bringe ich sie genau dorthin.«
Früher hatte Winterfeld immer am offenen Fenster gestanden und sich einen Zigarillo angezündet. Da im gesamten Gebäude offiziell Rauchverbot herrschte, hatte er am Fenster »nach draußen geraucht«, wie er es nannte. Bis ihm sein Arzt gesagt hatte, er bekäme massive Herzprobleme, wenn er so weiterqualmte. Insbesondere, wenn er die Zigarillos weiterhin auf Lunge
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